Erstellt am: 30. 3. 2010 - 18:07 Uhr
Jugendbewegung sein, älter werden
Ein Mitschnitt des Konzerts vom 29. März wird am 13. April 2010 ab 20.30 Uhr der FM4 Homebase ausgestrahlt.
Über die Hamburger/Berliner Band Tocotronic ist schon so einiges gemeint und gewusst worden in der Vergangenheit, vor allem über ihre aktuelle Platte "Schall und Wahn", auch hier an dieser Stelle. Gar nicht wenigen Hörerinnen und Hörern der ersten Stunden von Tocotronic stößt überraschenderweise die immer stärker werdende Kunstsinnigkeit der Band leicht unangenehm auf, die Inszenierung von gockelhaften Gesten eines Salon-Dandys, die Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow so wunderhübsch gestelzt betreibt, die Bezugnahme auf Kunst-Theorie und Philosophie, die Tatsache, dass der Blumenstrauß auf dem Cover von "Schall & Wahn" freilich kein Blumenstrauß ist, sondern das "Bouquet IV" des niederländischen Künstler-Duos Willem de Rooij und Jeroen de Rijke sein MUSS, die vorgegaukelte Blasiertheit des Rollkragenpulloverträgers, dem ständig ein Bändchen des Merve Verlags (Berlin) gar beiläufig aus der grauen Manteltasche ragt.

Florian Wieser
Alle ziemlich halbwegs, nunja, "relevanten" deutschsprachigen Musikmagazine haben sich großartig mit "Schall & Wahn" auseinandergesetzt, meist gleich mit der Cover-Story, Musikexpress und Rolling Stone, Visions und SPEX, bei kaum einer anderen Band - Radiohead gilt nicht - treffen sich da die Geschmäcker so durchgreifend, Feuilleton-Thema sind Tocotronic seit 100 Jahren. Keine derbe Überraschung also, dass Tocotronic mit ihrem mittlerweile neunten Album in der ersten Woche von Null auf Eins in die deutschen Album-Charts eingestiegen sind, wenngleich das auch nicht mehr allzu viel bedeuten mag, aber schon auch schön wieder einmal die Verschiebungen, Verwerfungen und Auflösungen innerhalb der ollen Dichotomie Indie/Mainstream in den letzten zwanzig Jahren bebildert. Wo sind wir denn da mittlerweile angekommen? 1997 haben wir uns noch mit Edding gegenseitig die grünen Trainingsjacken beschriftet: Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben!

Florian Wieser
Und so ziemlich alle sind gekommen. Die vier Österreich-Konzerte von Tocotronic sind ausverkauft, Graz, Wien, Wien und Linz. Quer durch die Styles und Alters-Schichten setzt sich das Publikum in der sehr heißen Arena zusammen: Indie-Girls- and -Boys ebenso wie schon fast leicht angegraute Menschen, zu denen man vor vier Jahren möglicherweise "Bobo" gesagt hätte, wenn man gerade ein bisschen Anti drauf war. Man wird älter und trinkt jetzt vielleicht auch einmal den guten Rotwein. Aus dem Glas.

Florian Wieser
Kann man als 16-, 17-jähriger junger Mensch heute noch mit dem aktuellen Album in die Band "Tocotronic" einsteigen? Tocotronic, die Nostalgie-Band für die Über-Dreißig-Jährigen, die sich einmal noch gemeinsam des eigenen jugendlichen Punk-Esprits vergewissern wollen, sich an die zum Soundtrack des Digital-Uhr-Piepsens vollzogene Menschwerdung erinnern? Tocotronic, AC/DC für die Träger von ironischen KISS-T-Shirts? Da Tocotronic aber nach wie vor nicht ausschließlich für die härtesten Fanatiker bloß "interessante" Platten, sondern sehr gute veröffentlichen, ist das Konzert eben keine Greatest-Hit-Show und auch keine Singles-Collection, die möglichweise viele der Anwesende gerne gehört hätten, sonder fußt thematisch überdeutlich auf "Schall & Wahn", das zu zwei Dritteln, ja doch, gegeben wird, und mit jeweils drei am Anfang und am Ende des regulären Sets gespielten Stücken auch dessen Klammer bildet.
Dirk ist ein Meister der Theatralik, wirft Handküsschen wie bedeutsame Rosenblätter ins Publikum, sagt mit echter Überzeugung "Wien!" und "Wien!" und "Es ist sehr schön wieder hier zu sein!". Drummer Arne Zank, der mittlerweile seinen Keith-Moon-Bestraft-Die-Umfallende-Waschpulver-Box-Stil zu einer scheppernden Perfektion gebracht hat, erhebt sich immer wieder vom Schemel, verbeugt sich linkisch, darf auch mal singen - kleiner Höhepunkt! - und grätscht vom Schlagzeug-Podest.

Florian Wieser
Nicht gerade unbeteiligt an der Neuerstarkung im Sound von Tocotronic ist Gitarrist Rick McPhail, der - durchaus der Musiker - gemeinsam mit Dirk von Lowtzow melodische Gitarrenwände errichtet, die sich gücklicherweise nie so ganz zwischen den Parametern "Neil Young" und "Shoegaze" entscheiden wollen, Jan Müller - spielt Bass: "Es ist einfach Rockmusik".
Tocotronic, TOCOTRONIC!, sind eine Rockband, die ganz genau weiß, wie das Wechselspiel zwischen Pose und Authentizität funkioniert. Wie ausgesprochen treffend meinte das Hamburger Abendblatt anlässlich von "Schall & Wahn": "Dass das Manierierte wahrhaftig wirkt, das Märchenhafte real und das Blödelnde subtil, das ist die Wonne dieser Platte." Der Eiertanz zwischen Klamauk und "Texte Zur Kunst", das Prätentiöse und die Hochstapelei, die komplette Affigkeit und das totale Ernstmeinen, vor "Aber Hier Leben, Nein Danke!" die linke Hand zur Faust ballen und in den Himmel strecken, und das Stück mit solch einer Inbrunst skandieren, dass wir alle wieder wissen, dass es auch um etwas geht, hier in diesem Leben.
Die neuen Stücke werden zwar tendenziell sehr gerne begrüßt, manchmal nur aufgekratzt erduldet ("Keine Meisterwerke Mehr" ist vielleicht der einzige kleine Schwachpunkt in der sonst perfekt geölten Dramaturgie des Abends), die endgültige Abfeierung besorgen freilich die Gassenhauer, die quer durch die Schaffensphasen, mal teils dezent neu gedeutet werden (grimmiger Ernst bei "Let There Be Rock"), mal mit jugendlichstem Elan wie zum ersten Mal in den Raum gepeitscht werden: "Jungs, Hier Kommt Der Masterplan!"
Die zweite Zugabe, "... .... ... ..., .... ... .... .... ..... ......", ein ganz früher Song von Tocotronic führt zum lautesten Mitsingen des Abends, zu einem Moment, den man sonst nur von der Grönemeyer bzw. Westernhagen- DVD kennt, was Tocotronic freilich verschmitzt zur Kenntnis nehmen, am Ende aber mit dröhnendem Gitarrenkrieg wieder ausbalancieren müssen. Danach gibt's noch eine Zugabe, und selbst danach und nach zehn Minuten Saallicht wollen große Teile des Publikums nicht aufgeben mit dem Klatschen und dem Schreien und dem Jubeln. Die Band hätte schon auch noch zwei Stunden weiterspielen können! Heute wieder. Das Johlen endet nie.