Erstellt am: 25. 3. 2010 - 19:02 Uhr
Aua!
Der erste Tagebucheintrag in "Gewalten" stammt vom 31. Dezember 2008. Clemens Meyer ist an ein Bett gefesselt. Arme und Beine sind abgespreizt und mit dicken Manschetten an Haken befestigt. Er befindet sich in einem dunklen Zimmer, das lediglich von einer flackernden Neonröhe beleuchtet wird. Außer einem Waschbecken und dem Bett ist das Zimmer leer. Sein Aufenthalt an diesem Ort ist die Folge einer durchzechten Nacht in Leipzig, die mit einem Einbruchsversuch in die Nikolaikirche und rechtsradikalen Anschuldigungen an den Pfarrer endete. Nun liegt Clemens Meyer selbst wie ein Gekreuzigter mit gespreizten Armen da. Er befindet sich gegen seinen Willen in der Psychiatrie.
Danach folgt ein harter Schnitt. Wir schreiben das Jahr 2009 und die folgenden zehn Tagebucheinträge versuchen, das Grauen, den Horror und die Gewalt eines ganzen Jahres in Worte zu fassen. Der Leser befindet sich auf einem Jahrmarkt der Brutalität.
Die Varianten der Gewalt
Fischer Verlag
Gewalt als Ausdruck der Hilflosigkeit der eigenen Existenz, Gewalt als Klammergriff der Sucht, die Gewalt des Schicksals beim Pferderennen und im Casino, nicht zuletzt beim Tod. In "Gewalten. Ein Tagebuch" zeigt Clemens Meyer mehrere Gesichter der Zerstörung. Die Topografie ist durch die albtraumhafte Schilderung urbaner Architektur den Formen der Gewalt angepasst: ostdeutsche Bahnhöfe, Fabrikshallen, Ghettos. Alles zerfällt, zerbröckelt und die Vergangenheit wird steril renoviert. Dabei bleiben Städtenamen unpräzise, Leipzig und München werden zu "L" und "M", eine Stadt sucht einen Mörder. Dazwischen ein Ich-Erzähler namens Clemens Meyer, der mit dem Autor verschmilzt oder umgekehrt. In dieser schwer durchschaubaren Rolle spricht Meyer mit einem Kinderschänder, fast schon humorvoll entblößt er die Menschlichkeit einer kranken Seele. Auf diese Weise wird er auch zum süchtigen Spieler auf der Rennbahn und im Casino. Einer, der der Gewalt des Schicksals unterliegt, diese aber negiert und stattdessen die undurchsichtigen Chiffren der Zahlenmystik anbetet.
Als Clemens Meyer schlüpft er im Eintrag "German Amok" auch in die Rolle eines jugendlichen Ego-Shooters, der die Brutalität eines Videospiels im echten Leben ausleben möchte. Mit einem schwarzen Mantel bekleidet tötet der Junge mit einer Pumpgun SchulkollegInnen und LehrerInnen. Der Eintrag ist auf den 11. März 2009 datiert. Am selben Tag ereignete sich ein Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden, bei dem fünfzehn Menschen getötet wurden.
Der Verlust des Ichs
Die Herausforderung dieses Textes ist die Kombination aus fiktionalen und autobiografischen Elementen unter dem Deckmantel des Tagebuchs. Die Chronologie bleibt ambivalent, manchmal allzu literarisiert. Meyer ist ein Sprachkünstler. Mit dichten und präzisen Formulierungen gelingt es ihm, in verschiedenen Rollen Authentizität zu inszenieren und den Alltag zu überhöhen. Dadurch entsteht an manchen Stellen ein fiktionales Blutbad im Stile eines Quentin Tarantino, aber gleichzeitig auch aufgrund der dichten und gestochen scharfen Sprache ein literarisches Panoptikum der Gewalten, bei dem sich beim Leser der Magen umdreht.
Clemens Meyer
In scheinbar beiläufigen Einträgen wie dem letzten mit dem Titel "Draußen vor der Tür" beschreibt Meyer den Kampf mit der höchsten Gewalt, dem Tod. Er schildert wie er bis zur Erschöpfung gegen die Verriegelung seiner eigenen Haustür ankämpft, dem Schloss, das er selbst angebracht hat. Er scheitert immer wieder und erzählt dabei schlicht genial den Kampf gegen die eigene Sterblichkeit. Am Ende schläfert Meyer seinen alten und kranken Hund ein. Der Tod als Erlösung. "Er ist weg."
Nach seinem Debütroman "Als wir träumten" und dem Erzählband "Die Nacht, die Lichter" versucht sich Clemens Meyer nun an der literarischen Gattung des Tagebuchs. Er haucht dem Genre neues Leben ein, weil er mit seinem teils autobiografischen Ich-Erzähler immer auch in die Rolle eines Beobachters schlüpft. „Gewalten. Ein Tagebuch“ ist so genial wie gnadenlos und schwer verträglich. Beim Lesen hat es mich immer wieder überrascht, wie präzise und facettenreich Meyer Sprache benutzt, um menschliche Abgründe zu schildern. Und auf diese Weise den Leser verstört zurücklässt. Würde Michael Haneke ein Buch schreiben, würde es wohl so aussehen.