Erstellt am: 14. 3. 2010 - 13:39 Uhr
Kiezbingo
Täglich höhnt die Polizei in den Medien über die Räuber: sie wären so dumm gewesen, hätten so viel Fehler gemacht, so viele Spuren hinterlassen. Gefasst hatte man die Täter zum Zeitpunkt des Redaktionschluss indes noch nicht.
Vor allem beeindruckte die Reaktion der Überfallopfer, denn nach dem Eintreffen der Polizei gingen die Spieler nicht etwa auf ihre Zimmer oder eilten zum Psychiater um eine etwaige posttraumatische Belastungsstörung behandeln zu lassen, sondern spielten klischeegetreu seelenruhig einfach weiter!
roesinger
Das sehr norddeutsche Wort "Kiez" in Kiezbingo steht ja nur in Hamburg für die Reeperbahn, also das Rotlichtviertel. In Berlin ist der "Kiez" einfach die Gegend, in der man wohnt, die paar Blocks, in denen man sich so bewegt.
Die schillernde Pokerhalbwelt am Potsdamer Platz ist jedoch weit entfernt vom idyllischen Kreuzberg, aber wenn Lotto das Roulette des kleinen Mannes ist, ist dann nicht Bingo der Poker der Prekarisierten? Und wenn Kreuzberg ein Dorf ist, dann ist der Heinrichplatz der Dorfplatz und das SO 36 die Dorfdisco. Und deshalb ruft man in dem alten Punkerschuppen und Konzertclub SO 36 jeden zweiten Dienstag im Monat zu Kiezbingo "für alle Kreuzberger, Male to Female, Straight & Homo, Doberdykes & Pudelfreunde, gestreßte Workaholics & Sozialschmarotzer".
christiane roesinger
Kiezbingo gibt es schon seit über zehn Jahren und trotzdem standen am Dienstag abend wieder Hunderte die ganze Oranienstraße lang bei Minusgraden Schlange um Einlass zu erhalten. Als die langen Tische drinnen bis auf den letzten Platz besetzt waren, spielte die Band auf, die beiden Conferencieusen Inge Borg und Gisela Sommer begrüßten das Publikum, erklärten die Regeln und lasen Zahlenlitaneien vor. Die Preise werden beim Kiezbingo von den umliegenden Geschäften gestiftet, der Gewinn geht an ein Kreuzberger Sozialprojekt.
christiane roesinger
christiane roesinger
Das Besondere am Kiezbingo ist, dass eigentlich keiner gewinnen will, denn wer gewinnt und "Bingo" ruft, der muss nach vorne auf die Bühne und wird, bevor er den Preis bekommt, von den beiden Transen ins Kreuzverhör genommen und liebevoll erniedrigt. Maliziös wird nach Wohnort, Beruf und Hobbys geforscht und Fragen wie "Und was produktest du dann später mal so als Produktdesigner?" können auch den selbstbewusstesten Jungstudenten ins Straucheln bringen.
Aber mit einem schrillen "SuperSexyBingo!!!" hochgeworfenen Beinen und dem Tusch der Kapelle finden auch die peinlichsten Verhöre ein versöhnliches Ende. Und nach so einem Kiezbingo –Abend ist man selbst auch wieder versöhnt mit dem eigenen Kiez, der natürlich immer der Beste von ganz Berlin ist.
christiane roesinger