Erstellt am: 19. 3. 2010 - 17:25 Uhr
"Die Informanten"
Gabriel Santoro ist überrascht, als sein lange mit ihm zerkrachter Vater wieder Kontakt zu ihm aufnimmt. Gabriel Santoro ist Journalist, Autor des Buches Ein Leben im Exil, das die Lebensgeschichte Sara Gutermans behandelt, einer deutsch-jüdischen Exilantin in Kolumbien und Freundin seines Vaters.
Gabriel Santoro, der Vater, ist Rhetorikprofessor und eine ziemlich berühmte Figur in Kolumbien. Sein Selbstbewusstsein ist dementsprechend, nicht umsonst hat er seinem Sohn seinen Namen weiter gegeben. An so einem muss man sich als Sohn erst mal abarbeiten. Und Gabriel Santoro, der Vater, war alles andere als amused über Ein Leben im Exil, das erste Buch seines Sohnes. Und brach den Kontakt ab.
"Die Informanten", übersetzt aus dem Spanischen von Susanne Lange, ist im Verlag Schöffling und Co. erschienen
Schöffling & Co.
Sobald ich 1988 meine ersten Exemplare von Ein Leben im Exil erhalten hatte, brachte ich meinem Vater eines vorbei, ließ es beim Pförtner und rechnete mit einem Anruf oder einem altmodischen, feierlichen, vielleicht anrührenden Brief. Als Brief oder Anruf auf sich warten ließen, kam mir in den Sinn, der Pförtner könne das Päckchen verlegt haben, aber bevor ich Gelegenheit hatte, bei ihm vorbeizugehen und mich vom Gegenteil zu überzeugen, erreichte mich das Gerücht von den Kommentaren meines Vaters.
(…) Von jeher hatte meine Entscheidung, über Aktuelles zu schreiben, meinen Vater zu harmlosen Sarkasmen veranlasst, die mich dennoch ärgerten. Nichts flößte ihm so viel Misstrauen ein wie jemand, der sich mit der Zeitgeschichte befasste, ein Wort, das in seinem Mund wie eine Beleidigung klang. Er wandte sich lieber Cicero und Herodot zu, das Tagesgeschehen hatte für ihn etwas Verdächtiges, fast Infantiles, und wenn er seine Ansichten nicht in aller Öffentlichkeit darlegte, dann nur aus geheimer Scham oder um nicht zugeben zu müssen, dass auch er seinerzeit Die Watergate-Affäre gelesen hatte. Doch all das war noch kein Grund für seinen Ärger. Den ersten Kommentar, zumindest den ersten mir bekannten, ließ mein Vater an einem Ort fallen, der öffentlich genug war, um mir zu schaden. Er wählte keine Kollegenrunde, nicht einmal eine Unterhaltung nach Tisch, sondern wartete, bis er sich vor den Teilnehmern seines Seminars befand, und griff dann nicht einmal zu einem Epigramm eigener Ernte (obwohl er die zuhauf besaß und äußerst giftige dazu), sondern plagiierte das eines Engländers aus dem achtzehnten Jahrhundert.
»Das Büchlein ist gut und originell«, sagte er. »Nur sind die guten Teile nicht originell und die originellen nicht gut.«
Gabriel Santoro, der Sohn, ist ziemlich überrascht, als der Vater Jahre nach dem Erscheinen des Buches wieder Kontakt zu ihm aufnimmt. Eine anstehende Herzoperation hat ihn dazu gebracht, und im Angesicht seines möglichen Todes versucht der Vater nun, sein Leben ins Reine zu bringen.
Eintauchen in die Vergangenheit
Nina Subin
Juan Gabriel Vásquez wurde 1973 in Bogotá geboren und lebt heute mit seiner Familie in Barcelona.
"Die Informanten" ist, nach mehreren Essays und Erzählungen, sein erster Roman. Vásquez gilt als einer der interessantesten jungen latein-amerikanischen Autoren.
In Gesprächen mit seinem Vater und mit Sara Guterman taucht Gabriel Santoro immer tiefer in die Vergangenheit seiner Familie ein, in die Verstrickungen seines Vaters, die Geschichte Kolumbiens im Zweiten Weltkrieg und die der deutschen und deutsch-jüdischen Emigranten in Bogotá. Immer deutlicher kommen dunkle Geheimnisse ans Licht, Schicht um Schicht lüften sich die komplexen Verstrickungen der Vergangenheit, immer klarer wird damit auch die Gegenwart.
Juan Gabriel Vásquez schreibt einen Roman im Roman, eine Fake-Dokumentation, er zeichnet den Recherchegang Gabriel Santoros aus dessen Sicht nach – mit einer Nachschrift, vorgeblich drei Jahre nach Erscheinen des Buches verfasst.
Faszinierend ist die klare, präzise Sprache; der Verzicht auf Schnörkel und poetische Applikationen verleiht dem Roman Geradlinigkeit und den handelnden Personen eine Plastizität, wie sie ein Ken Loach in seinen Filmen nicht besser hinbekommen könnte. Die Sprache zieht den Leser mit dem Protagonisten immer tiefer in die komplex strukturierte Handlung, immer tiefer in Gegenwart - das Kolumbien der frühen Neunziger Jahre - und Vergangenheit - das Kolumbien der Kriegsjahre - hinein.
Die Vergangenheit als Gegenwart
Die Vergangenheit, in die Gabriel Santoro eintaucht, ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Kolumbien. Damals entfernte das Land auf Druck der verbündeten USA vermeintliche und wirkliche Nazisympatisanten in der deutschen Emigranten-Community aus dem öffentlichen Leben
Die Informanten entpuppt sich als Geschichte von Schuld und Verrat, von Scham und Verdrängung, eine Geschichte darüber, wie sich die Folgen verdrängter Taten von einer Generation auf die nächste übertragen. Gleichzeitig ist es aber auch eine Geschichte über die Wechselwirkungen von Politischem und Privatem. Sie zeigt, wie sich in einer Gesellschaft, in der Unrecht geschieht, die Grenzen von Gut und Böse auflösen und ist damit eine Metapher auf die kolumbianische Geschichte seit den Vierziger Jahren. Und es ist, nebenbei, eine Geschichte darüber, wie der Nationalsozialismus nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt zerstörerisch wirkte.