Erstellt am: 10. 3. 2010 - 17:09 Uhr
Gestern war auch schon ein Tag
mari lang
Bücher sind Juwelen. Man passt darauf auf, beschmiert sie nicht und beklebt sie schon gar nicht mit einem kindischen Smiley-Sticker. Das war zumindest meine Einstellung, bis ich Finn-Ole Heinrichs Erzählband "Gestern war auch schon ein Tag" in die Finger bekam. Die acht Geschichten darin schreien förmlich nach einem Smiley bzw. nach irgendetwas, das einen nach der Lektüre aufheitert.
Da ist zum Beispiel Susan, die ein Bein verloren hat und damit klarzukommen versucht. Sie reißt Witze und ist fröhlich. Da ist aber auch noch ihr Freund, der Ich-Erzähler, dessen Leben auch aus den Fugen geraten ist. Denn er hat plötzlich eine Freundin mit einem Plastikbein, das komische Geräusche auf dem Boden der gemeinsamen Wohnung macht.
"Wer will eine behinderte Freundin. Ich hätte gerne einen Freund, den ich fragen könnte, ob er es falsch findet, was ich denke: Nein, man will keine behinderte Freundin. Wie kann man das wollen. Ich möchte jemandem davon erzählen, der nicht sofort weiß, was zu tun ist. Darf man an Trennung denken." ("Zeit der Witze")
Die Geschichte einer Behinderung erzählt aus der Sicht des Nichtbehinderten ist ein mutiger Zugang. Das Gefühl von Unbeholfenheit, Ekel und Schuldgefühl im Zusammenhang mit Versehrtheit, Krankheit und Tod - Finn-Ole Heinrich geht damit um, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und im Grunde ist es das auch, würde es in unserer modernen Gesellschaft nicht meist totgeschwiegen werden. "Ich habe Angst, dass das, was ich fühle, Ekel ist." Mit einfachen, klaren Sätzen wie diesem, trifft einen der 27-jährige Autor mit voller Wucht.
lutz edelhoff
Über die, die man übersieht
Es sind die Menschen, die man im Alltag eher übersieht, die Finn-Ole Heinrich für seine Kurzgeschichten ausgesucht hat, der Müllmann, der Straßenarbeiter, das schwererziehbare Kind. Ohne zu werten und ohne zu dramatisieren, verleiht er ihnen eine authentische Stimme. Der kleine Henning etwa erzählt in der Geschichte "Machst du bitte mit, Henning" von seinem Alltag in einem Heim für "gestörte Kinder". In flapsiger Sprache, gespickt mit vielen Wiederholungen, schildert er, wie er seine dünnhäutige Betreuerin zur Weisglut treibt und andere Kinder quält. Man lacht über seine unbeholfenen Versuche das Erziehungssystem zu durchschauen - "deshalb muss man alles machen, was keinen Sinn macht, um die Betreuer zu verarschen." - und verschluckt sich im selben Moment am eigenen Lachen, "und ich haben seinen Kopf gegen den Baum geknallt". Obwohl man kaum etwas über ihn erfährt - Alter, Herkunft, Aussehen - bekommt man ein gutes Bild von ihm.
Schon als Teenager hat Finn-Ole Heinrich Kurzgeschichten geschrieben und veröffentlicht - eine Sache, die ihm offensichtlich leicht fällt. "Vor meinem inneren Auge sehe ich Bilder, die ich dann einfach abschreibe", sagt er im Interview. Vor fünf Jahren erschien sein erster Erzählband, vor drei Jahren sein Debütroman "Räuberhände", mit dem der junge Hamburger großes Lob einheimste. Zahlreiche Preise und Stipendien folgten, während Finn-Ole Heinrich auf der Filmschule saß und Regie studierte. "Denn manche Geschichten kann man nur mit Bildern erzählen." Auch das kann er mehr als gut. Sein Kurzfilm "Fliegen" wurde 2009 auf der Berlinale gezeigt, und im nächsten Jahr soll eine seiner Erzählungen groß verfilmt werden. Das Drehbuch dazu schreibt Heinrich natürlich selbst. Denn er ist ein Tausendsassa, der seine Arbeit ernst und seinen Erfolg selbst in die Hand nimmt. Als er letztens im Rahmen einer Lesung in Wien war, saß er zwei Tage lang in seinem Hotelzimmer, um einen Text fertig zu schreiben. Für Sightseeing blieb dabei keine Zeit.
Literarischer Wallraff light
Mit ähnlicher Leidenschaft und Disziplin geht der junge Autor auch an seine Geschichten heran. Für seinen Debütroman "Räuberhände", der teilweise in Istanbul spielt, fuhr er zu Recherchezwecken in die Türkei. Für eine andere Geschichte absolvierte er ein Praktikum in einer Klinik für Demenzkranke, und auch mit schwererziehbaren Kindern hat der 27-jährige schon gearbeitet. Der Enthüllungsjournalist Günther Wallraff fällt einem in diesem Zusammenhang ein. Finn-Ole Heinrich ist die literarische Light-Version von ihm. Seine Erzählungen sind fundiert, sein Stil immer an das jeweilige Milieu angepasst und seine Recherchen de facto undercover. "Das, was ich daraus mache, meine Erzählungen, sind aber alle erfunden. Ich greife nur auf ein immenses Archiv an Erfahrung zurück."
In seinem aktuellen Erzählband "Gestern war auch schon ein Tag" steckt jede Menge Erfahrung. Die Geschichten bilden das Leben in all seiner Grausamkeit ab - schnörkellos und zutiefst ehrlich. Vor allem aber machen sie nachdenklich und berühren. Wenn man das Buch zuschlägt, möchte man in den Arm genommen werden oder zumindest einen Smiley auf dem Cover haben.