Erstellt am: 7. 3. 2010 - 10:00 Uhr
Flaggen und Tränen
Die Scheinwerfer erhellen die Bühne des bewusst schlicht gestalteten Fernsehstudios. Das Rundfunkballett hat sich in patriotische Kostüme geworfen. Minenarbeiter, Feuerwehrleute und sogar die eigentlich ausgestorbenen Selknam hüpfen zwischen in die chilenische Flagge eingehüllten Tänzerinnen und Tänzer. Eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben versammelt sich die chilenische Nation vor dem Fernsehgerät. Telefon und Internet stehen bereit, um einen neuen Spendenrekord aufzustellen. "Telethon - Chile ayuda a Chile" heißt das Programm und ist mit dem österreichischen "Licht ins Dunkel" zu vergleichen. Doch anstatt Kindern stehen diesmal die Erdbebenopfer im Mittelpunkt.
flickr.com/chileayudaachile
Nach einer 30-sekündigen Trauerminute betritt Don Francisco die Bühne. Der schon etwas in die Jahre gekommene Fernsehmoderator, der eigentlich Mario Kreutzberger heißt, beschreibt das erklärte Ziel. Innerhalb von 24 Stunden sollen umgerechnet 22 Millionen Euro zusammenkommen. Der Spendenlauf beginnt. Nach Tagen der Trauer, Ärger über ausbleibende Hilfe und Entsetzen über die gewaltsamen Plünderungen und Gegenmaßnahmen im eigentlich sicheren Land ist überall nur noch von "Wiederaufbau", "Fuerza Chile" und "Vamos Chilenos" die Rede.
flickr.com/chileayudaachile
Noch immer schwere Nachbeben
Auch wenn das Schlimmste überstanden ist, die Gefahr ist noch nicht vorüber. Tägliche Nachbeben erschweren die Hilfsarbeiten und bringen manche Häuser auch jetzt noch zum Einstürzen, die vor einer Woche gerade noch stehen geblieben sind. Das 14-stöckige Gebäude in Conception, wo möglicherweise noch immer Menschen unter dem Schutt begraben liegen, wurde offiziell zum Abbruch freigegeben. Gleichzeitig mehren sich die Meldungen der Kategorie "Bergmann Georg Hainzl lebt". Eine der großen Heldinnen des Erdbebens ist ein 12-jähriges Mädchen, das auf einer wenig besiedelten Insel alle Bewohner gerettet hat, weil sie den Rückzug des Meeres als Zeichen für einen kommenden Tsunami gedeutet hat.
Eine unerwartete Wendung gab es bei den Angaben der Opferzahlen. Nachdem tagelang von über 800 Toten die Rede war, liegt die offizielle Zahl jetzt bei 452. Die Regierungsstellen hatten unabsichtlich die Vermisstenlisten mit denen der Opfer zusammengerechnet. Viele Vermisste sind aber immer noch nicht gefunden. Die Zahl wird also noch steigen.
Nach wie vor treffen internationale Politiker in Santiago ein und sagen ihre Hilfe zu. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon appellierte in holprigem Englisch an den Wiederaufbaugeist der Chilenen. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hat sich zu einem "dreistündigen Solidaritätsbesuch" angesagt. Was genau in diesen drei Stunden passieren soll, darüber rätseln noch viele. Viel mehr Wirkung hat da schon Homer Simpson, der sich mit einer eigens aufgezeichneten Videobotschaft an das chilenische Volk wendet.
Einigkeit im Katastrophenfall
Durch den Katastrophenfall hat sich auch die notorisch in zwei Meinungen geteilte chilenische Gesellschaft (links-rechts, pro und contra Pinochet, mehr Sozialstaat - mehr Neoliberalismus) nicht nur symbolisch unter der Flagge versammelt. Auf jeder Straßenkreuzung sammeln Jongleure und Akrobaten Geld. Ab Sonntag gilt Staatstrauer und jeder Chilene wird gebeten die Fahne aus dem Fenster zu hängen. Und auch "das" Foto der "Phoenix aus der Asche"-Metaphorik ist gefunden. Der Mann, der beim Zusammenräumen seines Hauses eine Flagge aus dem Schutt zieht und dem zufällig anwesenden Fotografen präsentiert, wird landauf landab durch die Medien transportiert.
flickr.com/chileayudaachile
Auch Don Francisco hat ihn auf die Bühne gebeten. Unter Tränen erzählt er seine Geschichte. Don Francisco blickt betroffen, untermalt von trauriger Streichermusik. Mittlerweile ist es Nachmittag. Der Spendencountdown läuft, eine Firma nach der anderen spendet große oder zumindest akzeptable Summen. Unter den Privatspendern stechen Isabel Allende und Javier Zanetti hervor. Don Francisco hat mittlerweile sein Sakko abgelegt. Nach 17 Stunden sind auch seine Augenringe ein bisschen gewachsen. Im Daviscup-Match gegen Israel hat Chile die Führung übernommen. Auch hier werden Tränen mit der Flagge abgewischt.