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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

5. 3. 2010 - 16:33

Old Street and back

Was man sieht, wenn man eine Stunde zu früh ins East End stolpert.

Schuh beim Ausschreiten auf Londoner Pflaster

Robert Rotifer

Gestern war ich wieder in der Gegend rund um die Old Street, ein Ort, wo man immer wieder einmal vorbeikommt, in diesem Fall, um Mike Lindsay von Tunng in seinem Studio zu interviewen (aber davon mehr demnächst hier bzw. am Montag in meiner Heartbeat-Sendung).

Entgegen ihrem angestaubte Dickens-Romantik suggerierenden Namen lädt die Old Street an ihrer breitesten, alle Winde der Stadt zugleich anziehenden Stelle (jenseits des als Radfahrertodesfalle berüchtigten, rhombus-förmigen Kreisverkehrs) sicher nicht zum Schlendern oder Verweilen ein.

Old Street, Doppeldeckerbus

Robert Rotifer

Aber wie es sich bei mir nur ganz selten bzw. eigentlich nie ergibt, war ich diesmal irrtümlich eine Stunde zu früh dran. Und wenn man dann ein bisschen den Schritt schleifen lässt, stechen einem in der sonst gern ausgeblendeten Tristesse unwillkürlich ein paar bemerkenswerte Dinge ins Auge.

Old Street, Blumen für einen Toten

Robert Rotifer

Zum Beispiel der Blumenberg, die Kränze und Champagner-Flaschen vor einem der Werbeschilder. Selbst für Londoner Verhältnisse - die "floral tributes" sind hier ausladender als sonstwo, weil sie mit dem Brüllen des Verkehrs und der Gleichgültigkeit der Passanten wetteifern müssen - war dieses temporäre Denkmal an einen offenbar an dieser Stelle verstorbenen "BOB" überdurchschnittlich üppig ausgefallen.

Ein gefallener Fahrradbote?
Ein nächtlicher Kampf vor der Kebab-Bude?
Wer weiß.

Die Vorderfront der Foundry an der Old Street

Robert Rotifer

An der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich eines der Plakate, auf denen der Sänger von Kasabian das betont retro-lastige neue Auswärts-Trikot des England-Teams ausführt.

Und gleich daneben die Foundry, eine als Galerie und Schauplatz aller möglicher anderer Happenings fungierende Bar, von deren bevorstehendem Ende ich neulich im Independent gelesen hatte. Das Stockzahn-artige Eckhaus, das sie beherbergt, soll einem neuen Hotel weichen.

Foundry aus der Nähe

Robert Rotifer

Ich ging also über die Straße und rüttelte an der Türklinke. Die Foundry war bereits Geschichte.

Foundry Flugblatt: Group of Emerging Artists

Robert Rotifer

Das in einer ehemaligen Bankfiliale untergebrachte Lokal, das ich zugegebenermaßen seit Jahren nicht betreten hatte, war mir innerhalb der Hoxton/Shoreditch-Blase in seiner unkomplizierten punkig-speckigen Schwarzheit immer wie ein kleines Stück Kontinentaleuropa erschienen.

Aber wie gesagt, ich war lange nicht dort, und das Ende der Foundry hat wohl niemand sonderlich überrascht, nachdem fast alles, was diese vormals völlig gottverlassene Gegend im letzten Drittel der Neunziger spannend gemacht hatte, längst profitableren Etablissements gewichen ist.

Fassade der Foundry mit Straßengemälde

Robert Rotifer

Dass die Schließung der Foundry es in die Tagespresse geschafft hat, spricht ja an sich schon Bände über den von der ersten Hoxton-Generation in der Zwischenzeit beschrittenen Gang durch die Institutionen und Redaktionen.

Wer ein zeitgenössisches Äquivalent dessen sucht, was früher hier los war, biegt jedenfalls beim weiter oben abgebildeten Straßenschild nach links in Richtung Dalston ab.

Vorderfront Rossi Restaurant

Robert Rotifer

Ich dagegen beschloss, dem Joanna Newsom-Dreifach-Album zuliebe einen Abstecher zum Rough Trade East zu machen und mir davor in der Hanbury Street eine Kombo aus Beans, Speck, Ei und heißem Tee zu gönnen.

Rossi Restaurant Vordertür mit gesprayter Aufschrift: Closed 4 Good

Robert Rotifer

Zu meiner großen Enttäuschung war Rossi's, das letzte klassische Greasy Spoon Working Class Café des Viertels (siehe dies aus dem Oktober 2007) inzwischen auch den Weg der Foundry gegangen, wenngleich abseits der medialen Wahrnehmung.

Rossi Restaurant Menü im Fenster

Robert Rotifer

Durchs Fenster hindurch konnte ich sehen, dass auf den Tischen immer noch das unverzichtbare Arrangement aus Ketchup, Salz, Zucker und Essig stand.

Rossi Restaurant Ketchup, Salz, Zucker, Essig auf Tisch

Robert Rotifer

Man beachte das symbolträchtig leere Essigfläschchen. Nie wieder wird es mit braunem Malzextrakt befüllt werden. Beinahe möchte man dunkelbraune saure Tränen weinen.

Andererseits ist Rossi's angestammte Klientel ja schon vor gut zehn Jahren mit dem Vorstoß der Bohemiens aus Shoreditch verdrängt worden, insofern muss es wohl an den vielen örtlichen Innendesigner-Makeover-Aufträgen der Boom-Jahre gelegen sein, dass sich bis vor kurzem genügend proletarisches Publikum für die traditionelle Handwerker- und Bauarbeiter-Diät finden ließ.

*) Nein, es ist offenbar ein romantischer Fake. Siehe bifbof's Posting weiter unten.

Nach meinem Tunng-Interview ging ich den ganzen Weg bis zur St. Pancras Station zu Fuß. Am Mount Pleasant stolperte ich über einen überlebenden "Progressive Working Class Caterer". Liegt vielleicht am Hauptpostamt vis à vis.*

Glassscheibe mit Aufschrift Snacks, Progressive Working Class Caterer

Robert Rotifer

* *) Falls es das Wort im Deutschen nicht geben sollte, gehört es dringend erfunden.

Während ich schnell noch, bevor es verschwindet, das stilgerechte Glasschild fotografierte, wurde mir wieder einmal bewusst, was für ein unverbesserlicher Sentimentalist* * ich bin.

Und dann ging ich an einem der von George Orwells 1984 derivierten Poster vorbei, die vor ein paar Jahren eine zeitlang überall auftauchten. Dieses vergilbte Exemplar hatte hinter einem Bauzaun den Durchmarsch der Putztrupps überstanden. "Obey. Never trust your own eyes. Believe what you're told"

Poster im Stil von Orwells 1984: Obey, Never trust your own eyes, believe what you are told

Robert Rotifer

Mir fiel ein ein, wie die Hauptfigur Winston in 1984 durch die von Bombardements verwüsteten Slums der Proles geht und dabei ein Geschäft voller Überreste einer verlorenen Vergangenheit findet.

Orwell schrieb seinen Text in der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber die in eine dystopische Zukunft projizierten Gefühle Winstons bei der Entdeckung dieser Sammlung alten Gerümpels sind im Hier und Jetzt genauso nachvollziehbar.

Es ist nämlich gerade die Aura der brutalen Vergänglichkeit, die London - im Unterschied zu all den besser konservierten, schöneren Städten - letzlich so zutiefst begehenswert macht.

Das Gefühl, dass diese Stadt sich in ihrem selbstzerstörerischen, bedenkenlosen Vandalismus permanent selbst verschlingt, macht alles, was trotzdem von ihr übrig bleibt, noch umso magischer.