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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

4. 3. 2010 - 13:21

"Dorfdefektmutanten"

Ein tagträumender Hausmeister ist der Protagonist in Markus Köhles postmodernem Heimatroman.

Milena-Verlag

Ein Defektmutant ist, wie uns auf der Innenseite des Einbands ein Auszug aus der Schweizer Tierschutzverordnung erläutert, ein „Tier, das durch das Zuchtziel bedingte oder damit verbundene Schmerzen. Leiden, Schäden oder andere Verletzungen seiner Würde aufweist. Es können herkömmlich gezüchtete oder gentechnisch veränderte Tiere sein.“

„Den Tirolern das Bier wegzusaufen, ist ein guter Grund, auf der Welt zu sein.“ Wenigstens der oberösterreichische Dorfarzt des Tiroler Provinznestes, in dem Markus Köhles Roman angesiedelt ist, hat noch ein Lebensmotto, der Protagonist und Ich-Erzähler nicht mehr. Er ist einer, von dem man im Dorf sagt, er hätte sich zu viel herausgenommen, er wollte zu hoch hinaus, einer, der die Provinz verlassen wollte, aber dennoch wieder im Dorf gelandet ist, jemand, der am Leben gescheitert ist.

"Ich bin gesellschaftlich integriert, habe aber eine Art Sonderstatus inne. Bei Tieren ist das Phänomen Cantochronomismus bekannt. Das heißt Schwarzfärbung bei Säugetieren, Gelbfärbung bei Fischen. Der Goldfisch ist eine gelbe Defektmutante des Giebels, der Panther ein schwarzer Leopard, und ich? Bin ich womöglich eine karierte Spitzmaus, eine Dorfdefektmutante? Ich werde als einer betrachtet, der es nicht geschafft hat; der zurück- und in sich kehren musste, um draußen nicht durchzudrehen. Ich genieße die Freiheit des Inmichgekehrtseins. Alles, was nicht im Dorf ist, ist draußen."

Er ist Hausmeister im „Raststadel“, der beliebten Raststätte am Rand des Dorfes. Sein Leben besteht aus permanenten Rechtfertigungen, Schneeräumen, Blumensetzten und vielen kleinen Reparaturarbeiten. Sein Leben ist Zeit totschlagen. Schafft er dies nicht, holen ihn gelegentlich Erinnerungen ein.

Rewind

In Rückblenden zeichnet Markus Köhle die Entwicklung des Hausmeisters nach, von der späten Kindheit mit Sportveranstaltungen und Waldfesten, über Videoabende, Rauscherlebnissen und der Matura, bis zu erstem Sex, der Studienzeit in Wien und seiner Rückkehr ins Dorf. Meistens kreisen des Hausmeisters Erinnerungen um Erlebnisse mit Klaus, seinem besten Freund, einem rebellischen Mopedfahrer, Sportskanone, politischen Sprayer, eloquenten Aufständischen und Claudia, dem Mädchen aus dem Nachbardorf, in die er sich verliebt. Die Rivalität mit Klaus um Claudias Zuneigung ist absehbar, aber nicht der Grund für die Traumata, von denen der Hausmeister in der Gegenwart geplagt wird. Daran sind eine Abtreibung und eine "zerfickte" Freundschaft schuld, Resultate aus dem mangelhaften Umgang des Protagonisten mit Verantwortung.

Ausweg

mutierte bäuerliche Familie in industriell zestörter Umwelt

Simon Welebil

Coverrückseite

Das Hausmeisterdasein bildet die Endstation der Entwicklung. Ausweg zeichnet sich keiner ab, vor allem, weil der Protagonist sich mit seiner Situation arrangiert hat. Wenn ihn die Gegenwart oder Erinnerungen quälen, flüchtet er sich in Schlupflöcher: „Literatur und Internet sind zwei mir sehr angenehme Fluchtwelten. Lesen und Surfen meine liebsten Vergangenheits- und Realitätsabwehrmanöver.“ Der Hausmeister lagert seine ganze intellektuelle Kommunikation ins Netz aus, das ihm auch bei der Befriedigung sexueller Bedürfnisse hilfreich ist. Ablenkung vom Arbeitsalltag bieten ihm auch die absurden Szenen, die sich im „Raststadel“ abspielen, die Kloverwüstungen und Parkplatzüberraschungen, die er auf Flickr dokumentiert. Eine Änderung seines Lebens scheint nur Marika bewirken zu können, die Küchenhilfe des „Raststadels“, die ihn so an Claudia erinnert, doch die soziale Inkompetenz des Hausmeisters, seine Zurückhaltung und Verträumtheit, scheint auch hier zu keinem Happy End zu führen. Eigentlich sucht er nämlich gar nicht nach einem Ausweg aus seiner Situation – deshalb muss dieser zufällig kommen.

markus köhle hinter dem mikrophon

konflozius

Markus Köhle, fotografiert von Konflozius

Markus Köhle stellt neben der Geschichte des Hausmeisters auch die Machtverhältnisse und die Missstände am Land dar. Geschickt flicht er scheinbar alle sozialen Probleme des Tiroler Provinzlebens in die Romanhandlung ein, ohne dass es überladen wirkt: den Strukturwandel, der Tirol erfasst hat, die Zersiedelung und Zerfransung der Dörfer, das „Quasi-Medienmonopol“ der Tiroler Tageszeitung, Alkoholismus, Migration, Katholizismus, Provinzialität, etc. Wem dies abgedroschen und nur allzu bekannt vorkommen mag, kann beruhigt sein, auch Köhle kennt die Klassiker des „Anti-Heimatromans“, zitiert und parodiert sie. Etwa, wenn er Klaus bei seiner mündlichen Matura über Wolfgrubers "Herrenjahre" und Innerhofers "Schöne Tage" extemporieren lässt, mit Ausblicken zu Jelinek, Menasse oder Norbert Gstrein, ohne eines ihrer Werke gelesen zu haben.

„In Felix Krull, Felix Austria oder Austria Memphis?”

"Dorfdefektmutanten" ist ein postmoderner Heimatroman, reich an Zitaten und intertextuellen Verweisen, gespickt mit Lexikons- und Populärkulturwissen und voll von Markennamen, wie man es etwa aus Bret Easton Ellis‘ American Psycho kennt. Der Neologismenjunkie Köhle („Dormetastasen“, „Restspürspuren“, „Füllfloskelwasser“, „Lethargieböschung“ etc.) knüpft elendslange Assoziationsketten, die häufig in Lebensweisheiten münden: „Die Wahrheit mag zwar dem Menschen zumutbar sein, dem Geselligen aber ist sie generell abträglich.“, oder: „In der Raststätte kriege ich Mitarbeiterrabatt, beim Seewirt schnell Kopfweh.“

Markus Köhle: Dorfdefektmutanten

Der Roman ist im Milena-Verlag erschienen, hat 168 Seiten und kostet 14,90 Euro.

Wer aufgrund des Titels oder der Illustrationen eine trashige Zombiestory erwartet, der/die wird von Köhles Roman wohl enttäuscht sein, allen anderen ist "Dorfdefektmutanten" uneingeschränkt zu empfehlen.

Markus Köhle liest aus Dorfdefektmutanten am 3.3.10 in der Buchhandlung Wiederin/Innsbruck, am 4.3.10 in im Pfarrsaal Allerheiligen/Innsbruck und am 10.3.10 in der Vorstadt/Wien.