Erstellt am: 3. 3. 2010 - 19:09 Uhr
Die politischen Nachbeben
"Die Ruinen waren so durcheinandergemengt, und die ganze Szene besaß so wenig das Ansehen eines bewohnbaren Ortes, dass es kaum möglich war, sich den früheren Zustand vorzustellen". Diese Zeilen hat ein gewisser Charles Darwin über die chilenische Küstenstadt Conception geschrieben, als der diese zwei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben vom 20. Februar 1835 besucht hatte.
www.britannica.com
Seit jeher wird das unfassbar lange und und unfassbar schmale Land von tektonischen Erschütterungen heimgesucht. Bereits 1647 fiel Santiago einem Beben zum Opfer, und die Erschütterungen von 1960 gelten mit 9,5 auf der Richterskala als heftigstes Erdbeben der Geschichte. Doch trotz all der Erfahrung wirken die offiziellen Stellen derzeit alles andere als auf den Worst Case vorbereitet.
Selbst vier Tage nach der Katastrophe sind viele Opfer, vor allem die in den kleineren Gemeinden, noch immer ohne Lebensmittel und sonstige Versorgung. Vor allem die durch Beteiligungen an den Kupferminen und übriggebliebenen Gesetzen aus der Zeit der Diktatur hervorragend ausgestattete Armee hat sich in den letzten Tagen nicht mit Ruhm bekleckert. Erst verneinten sie die Gefahr eines Tsunamis an der chilenischen Küste, während der gesamte Pazifikraum im Warnzustand war. Und jetzt, wo die Hilfe auch endlich in den entlegenen Orten ankommt, müssen die Soldaten beispielsweise jede Lebensmittelschachtel einzeln tragen, weil schlichtweg passende Kisten fehlen. Blöderweise scheint auch die Kommunikation zwischen Regierung und Streitkräften nicht gut zu funktionieren, weil sich die chilenische Armee generell wenig von der Regierung sagen lassen will - vor allem nicht von einer ihr politisch nicht allzu wohlgesinnten.
La Tercera
Gegenseitige Schuldzuweisungen hin oder her: Anstatt sich an der Katastrophenhilfe zu beteiligen müssen sich immer mehr Soldaten und Polizisten mit den nicht abnehmenden Plünderungen beschäftigen. Die Fernsehbilder von lachenden Dieben, die einen Kühlschrank davontragen, sind aber nur die halbe Wahrheit. Selbst in Conception sind viele betroffene Familien noch immer ohne Wasser, Milch und Brot. Den anfangs eingesetzten Wasserwerfern sind schnell scharfe Waffen gewichen. Den Opfern der Naturkatastrophe folgen nun Opfer der Schießereien zwischen Streitkräften, Plünderern und Bürgerwehren, die mit Waffengewalt ihre eigenen Häuser beschützen wollen - oder organisiert andere Häuser ausräumen. Nachdem via Twitter das Gerücht entstanden war, dass auch in Santiago geplündert wird, haben sich selbst hier, wo wenig bis gar nichts passiert ist, solche Nachbarschaftsarmeen gebildet und Straßen abgesperrt. Als ob das noch nicht genug wäre, sind fast alle Krankenhäuser schwer getroffen und großteils ohne Wasser und Strom.
Roland Gratzer
Im restlichen Land haben die Leute den ersten Schock überwunden und tun alles mögliche, um Lebensmittel und Kleidung für die zerstörten Regionen aufzutreiben. Neben den etablierten Hilfsorganisationen ist das Ausmaß der spontanen Hilfe sehr sehr groß. Das Fernsehen startet die ersten Fundraising-Großprojekte, Politiker aus anderen Ländern besuchen das Land und sichern ihre Hilfe zu. Sogar der peruanische Präsident Alan Garcia war da. Das hat viele Chilenen überrascht, da sich die beiden Länder seit Jahren um eine nicht wirklich wichtige Grenze mitten im Meer zanken.
Unterdessen wird immer offensichtlicher, dass viele nagelneue Gebäude dem Beben nicht standgehalten haben. Vor der Zentrale des Konsumentenschutzverbandes Sernac steigen die ersten Demonstrationen. Sernac-Chef Jose Roa appelliert an die Baufirmen, den obdachlos gewordenen Familien unbürokratisch und vor allem schnell neue Wohnungen zu bauen, anstatt sich in einen jahrelangen Rechtsstreit zu begeben. Die Baufirmen reden sich allerdings schon jetzt auf das Erdbeben raus und sprechen von einer "nicht kontrollierbaren Naturgewalt". Dass viele Konstruktionen das Label "absolut erdbebensicher" getragen haben, wird dabei gern vergessen.
Die nationalen Fernsehsender bringen neben Handy- und Überwachungskamera-Videos vom Erdbeben selbst mitterweile vermehrt Hoffnungs- und Spendenaufrufe. "Vamos Chile" ist vielerorts zu hören und selbst Fußballgott Ivan Zamorano appelliert an seine Landsleute, sich am Wiederaufbau zu beteiligen.
Und das Volk, das um die hunderten Toten trauert, hat auch gute Nachrichten verdient. Wie etwa die, dass in einem der schwer getroffenen Orte während des Bebens ein Baby auf die Welt gekommen ist. Dem Kleinen geht es gut.