Erstellt am: 3. 3. 2010 - 16:26 Uhr
Mali: Baby-Boom und Weltkultur
Sie sind überall. Kinder aller Altersstufen. In den sandigen Gassen von Djenné scharen sie sich zum Spiel, zum Streit, zur Arbeit. In den zahlreichen Koranschulen der Stadt im Zentrum Malis sitzen sie beinahe aufeinander, mit Holztafeln, auf denen sie - zwecks mangelnder Schreibblöcke die Suren zum Lernen mit nach Hause nehmen - schwirren sie später durch die Straßen. Vorbei an Altersgenossen, die auf dem Markt auf dem Platz vor der Moschee Gemüse, Waschpulver oder Erdnüsse verkaufen oder betteln. Vorbei an Fußballkollegen, die gerade das Material für die Lehmziegel mischen, aus denen die Stadt gebaut ist.
anna mayumi kerber
Jedes Jahr bekommt Djenné einen neuen Putz verpasst - und zwar buchstäblich. Vor der Regenzeit machen sich die Bewohner der Stadt daran, die Häuser zu verputzen. Für die Renovierungsarbeiten an der Moschee, die zu den größten Lehmziegel-Gebäuden der Welt zählt, beteiligen sich jedes Jahr rund 4000 Freiwillige. Auch die UNESCO schätzt den architektonischen Wert der Stadt, und hat sie deswegen auf die Weltkulturerbe-Liste gesetzt.
Das Baumaterial wird aus Lehm, Reisstroh und Wasser gemischt. Ein Gutteil der Arbeit verrichten Kinderhände – nach der Schule und am Wochenende. Davon gibt es genug. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung des westafrikanischen Binnenstaates ist jünger als 15 Jahre. Ein weiterer globaler Spitzenwert geht damit Hand in Hand: Eine Frau in Mali bekommt im Durchschnitt zwischen sechs und sieben Kinder. Zum Vergleich: in Österreich liegt dieser Wert näher bei einem als bei zweien.
anna mayumi kerber
Bevölkerung Mali: geschätzte. 14 Mio
Schätzungen für 2050: zwischen 28 und 42 Mio (abhängig von der Geburtenrate)
Durchschnittliche Anzahl von Kindern
einer Malierin: 6,6
einer Österreicherin: 1,39
Bevölkerungsstruktur: knapp die Hälfte der Malier ist unter 15 Jahren alt (in Ö macht diese Gruppe rund 16 Prozent aus)
Einwohnerzahl von Bamako:
1904: 3000
1960: 89000
2010: ca. 1,5 Mio
2035: 3,2 Mio (geschätzt)
"Kinder statt Party", meinte deswegen einst eine österreichische Familienministerin. Das sieht man in Mali anders. Hier zählt man auf die Kinder für (!) die Party. Zahlreiche Nachkömmlinge verschlägt es in die Städte, es gibt zu wenig Arbeit auf dem Land.
Malis Hauptstadt Bamako ist in den letzten hundert Jahren von einem kleinen Fischerdorf zu einer Millionenstadt angewachsen. Ein Albtraum der modernen Stadtplanung. Chaos statt organisiertem Zusammenleben, alles findet überall statt. In Häusern, auf mit Schlaglöchern durchsetzten Straßen, in sandigen Gassen, stinkenden Baracken und auf leer stehenden Flächen. Es wird gelebt, gehandelt, gebettelt, gefeiert.
Der Pulk, der sich Stadt nennt, wächst unaufhaltsam. Ende zeichnet sich keines ab. Geschäfte, die Zementmischungen und andere Bauutensilien verkaufen, säumen die Zufahrtsstraßen. Auf diesen drängen sich Menschenmassen auf Mopeds, in Autos und Kleinbustaxis. Der Smog über der Hauptstadt verdichtet sich am späten Nachmittag in einem Ausmaß, das Atmen zu einer mühevollen Aufgabe macht. 40 Grad Celsius tragen wenig zur Linderung bei.
An Feiertagen findet der Nachwuchs zurück zum Nest, in diesem Fall Djenné. Es wird mit dem Vater und seinen bis zu vier Frauen zelebriert. Polygamie ist in Mali weit verbreitet, der Islam, dem rund 90 Prozent der Bevölkerung angehören, heißt bis zu vier Frauen gut. Die Haushalte sind dementsprechend groß, wie man auf einem Stadtrundgang (der anderen Art) erfahren darf:
Bandalewa ist eine von 21 Töchtern derselben Mutter. Sie hat "gute Arbeit geleistet", wie es in Djenné heißt. Die Nachbarn müssen anziehen, wenn sie mithalten wollen. Bei Familie Cisse gibt es drei Mütter mit insgesamt 21 Kindern. Gegenüber teilen sich vier Frauen den Ehemann. Sie haben ihm bisweilen vier, sieben, neun, beziehungsweise zehn Kinder geschenkt. Ans Aufhören denkt man hier nicht, im Gegenteil: Zwei der Frauen sind schwanger.
anna mayumi kerber
Der sich ankündigende Nachwuchs steuert dem enormen Bevölkerungswachstum des Landes bei. Bei der derzeitigen Geburtenrate rechnen Experten zur Mitte des Jahrhunderts mit nahezu 42 Millionen Menschen in Mali. Würde Österreich dem gleichen Wachstumsprinzip folgen, gäbe es 2050 etwa 30 Millionen Bürger in der Alpenrepublik.
Die Kinder von Djenné werden zweifelsohne schwierigen Bedingungen ausgesetzt, in Zukunft noch mehr als heute. Für solche und ähnliche Gedanken bleibt ihnen im Moment allerdings wenig Zeit. Es gilt Lehmziegel zu brennen. Die Regenzeit naht, die Häuser werden dem Nass nicht standhalten, wenn sie nicht neu verputzt werden. Das Erbe der Weltkultur droht dann zu zerbröckeln.