Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Erdbeben in Chile"

Roland Gratzer

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1. 3. 2010 - 20:25

Erdbeben in Chile

Und dann bist du plötzlich mitten in einem realen seismologischen Ereignis.

Ein bisschen was über Erdbeben wissen ja sogar wir aus Österreich. Im Krisenfall unter einen stabilen Türstock stellen und wenn man an der Küste ist, so schnell wie möglich in höhere Gefilde flüchten, um einem möglichen Tsunami zu entgehen. Als aufmerksamer Kino- und TV-Konsument weiß man das eigentlich. Und dann ist man plötzlich mitten in einem realen seismologischen Ereignis.

Und alles macht man falsch

Die Wände beginnen zu wackeln, der Strom fällt aus. Pfeilschnell springt man aus dem Bett und rennt aus dem Haus (an den sicheren Türstock denkt man natürlich nicht). Mit zittrigen Händen ist das Tür aufmachen alles andere als schnell erledigt. Auf der schmalen Treppe vor dem Haus rennen und schreien die Leute. Die mehr als provisorischen Stromkabel schwanken bedrohlich, die steile Straße hört einfach nicht auf zu beben. Nach gefühlten Stunden (in Wirklichkeit waren es um die drei Minuten) zittert zwar noch der ganze Körper, aber immerhin, die Erde gibt endlich Ruhe. Die wunderschöne Stadt Valparaiso, die 1906 bereits von einem Horror-Erdbeben plus Tsunami getroffen wurde, hat die tektonische Entlastung wider aller Erwartungen glimpflich überstanden. Nicht einmal die Häuser in den ärmeren Vierteln, die teilweise nur auf faustdicken Stelzen in den Berg hineingebaut werden, haben großen Schaden erlitten.

Eine Strasse in Valparaiso

Sarah Julia Strauss

Valparaiso hielt Stand, wurde allerdings auch nicht so hart getroffen wie die Städte weiter im Süden.

Dass man in einer Küstenstadt ist, und auf ein Seebeben gern eine Flutwelle folgt, realisiert man natürlich auch erst viel später. Aus Angst vor Nachbeben geht man also runter, um in einem moderneren Gebäude Schutz zu suchen. So ganz vertraut man der Holzskelett-Bauweise anno 1910 dann doch nicht. Unten im Zentrum liegen große Steinbrocken auf der Straße (sei verflucht, Stukatur). Weil gerade Samstag ist und in Valparaiso sowieso immer viel los ist, löst die Mischung aus Erdbeben und dem zuvor bzw. danach konsumierten Alkohol eine unangenehme Stimmung aus. Die Scheiben, die zuvor noch heil geblieben sind, bekommen es mit Pflastersteinen zu tun (bevorzugtes Ziel: das Bankenviertel. Nur gut, dass das Kreditkartenschloss an den Türen nicht funktioniert hat und man sich doch nicht neben einem Bankomaten verschanzt hat). Als dann doch ein bisschen viele Bierflaschen aus den Fenstern fliegen und uns ein Einheimischer nahe gelegt hat, vielleicht besser jetzt als später ins Haus zu gehen, brechen wir wieder auf.
So fühlt sich also ein kleiner Riot an.

Die folgende Nacht fällt nicht unter die Kategorie Tiefschlaf. Von Nachbeben geweckt und alles in allem nicht ganz so entspannt, hüpft man immer wieder auf und stellt sich - immerhin - unter den Türstock.

zerstoertes haus in chile

Catalina Burmeister

Vor allem die alt-kolonialen Lehmhäuser hielten dem Erdbeben nicht stand.

Und langsam realisiert man die Katastrophe

Erst am nächsten Tag, als die ersten Telefone wieder zu funktionieren beginnen und das Radio nonstop berichtet, erfährt man vom Ausmaß der Katastrophe.

Zuvor dachten wir noch, wir waren im Zentrum des Ereignisses. Erst als die Nachrichtenmaschinerie auch das betroffene Land erreicht, realisiert man, dass man glimpflich davongekommen ist. Die kleine Stadt Constitution, in der man kurze Zeit vorher vom gewaltigen Meer fasziniert war, wurde von einem Tsunami hingerichtet. Der schmucke Vergnügungspark in Iloca, den man noch fotografieren wollte, steht nicht mehr. Eine gute Freundin hat einen Tag zuvor noch geschrieben, dass sie ihre Familie in Conception besuchen will, das zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahrzehnte fast vollständig zerstört worden ist. Die englischen und dänischen Mitbewohner des Hostels beginnen ihre Verarbeitungsstrategie, saufen Bier und hören ununterbrochen "What a wonderful world" von Louis Armstrong.

Die Nachrichten sind schrecklich. Vor allem die privaten Sender spezialisieren sich auf die Themen vermisste Kinder und Plünderungen. Die örtlichen Autoritäten reagieren mit Wasserwerfern und Schusswaffen. Nach den Live-Bildern aus einem Supermarkt, in dem auf eine Frau geschossen wird, die Milch stiehlt, schaltet man aus. Den Verwandten und Freunden, bei denen man unterkommt und froh ist, nicht auf die völlig lahmgelegten Fluglinien angewiesen zu sein, ist man in diesem Moment sehr, sehr dankbar.

Zeitungen und Fernsehen berichten von entflohenen Häftlingen und organisierten Plünderbanden. Von den anderen Menschen hört und liest man wenig bis nichts. Vor allem nicht in der internationalen Berichterstattung. Von denen, die im Schutt nach Menschen graben. Von denen, die auf der Autobahn stehen und jeden Fahrer vor großen Rissen im Asphalt warnen. Von Alda und Christian, den Besitzern des von nun an erdbebengeprüften Hostels Casa Aventura, die uns am Tag danach mit Telefonaten und Nahrungsmitteln geholfen haben.

Menschen auf der Autobahn nach santiago de chile

Catalina Burmeister

Auf der Autobahn zwischen Conception und Santiago de Chile.
Eine eingestuerzte Bruecke in Chile

Catalina Burmeister

Auch die Infrastruktur wurde hart getroffen.

Status quo

Die internationale Berichterstattung beginnt langsam abzuebben. Die Situation in den schwer betroffenen Gebieten ist aber alles andere als unangespannt. Vielerorts steigen die Wucherpreise für Wasser und Milch. In den geöffneten Supermärkten kaufen die Menschen in dermaßen großer Menge ein, dass für die anderen wenig bleibt. Oftmals sind Häuser eingestürzt, die erst seit acht Monaten bezogen sind. Man spricht von Korruption und schweren Baumängeln. Die Regierung tut nach eigenen Angeben alles, was sie kann, ist aber gerade in einer blöden Situation. Nächste Woche steht nämlich der Machtwechsel von Michelle Bachelet auf Sebastian Piñera an. Und obwohl die Wahl schon entschieden ist, klingt in den Interviews leichter Wahlkampf mit. Es wird diskutiert, wessen Idee welche gute Massnahme jetzt war, und wer für falsche Entscheidungen verantwortlich ist (das kommt allerdings hauptsächlich vonseiten der zukünftigen Machthaber, deren gewünschter Privatisierungsschub nun der Formel "Wiederaufbau Chile" gewichen ist).

Man selbst ärgert sich zwar ein bisschen über nicht zu erreichende Airlines, ist aber glücklich, dass man alles überstanden hat und sich doch für das Hostel und nicht für das Zelt entschlossen hat. Und weil man in solchen Momenten tatsächlich ein wenig Heimweh bekommt, ist man außer sich, als die gute Freundin eine Flasche Kernöl auf den Tisch stellt.