Erstellt am: 26. 2. 2010 - 15:45 Uhr
Olympia-Log: Vancouver 2010, Tag 14.
Auf einen Blick: Olympia auf fm4.orf.at, alles aus Vancouver auf orf.at und das Olympia-Log.
Ja, dieses neue Ding da, dieses Skicross, das gefällt schon jedem.
Auch wenn man's nicht so recht zugeben darf, weil es ja überhaupt schwerfällt, sich zum konsumistischen Versumpern in der Sport-Übertragung an sich zu bekennen.
Und weil man sich, wenn schon, dann natürlich eher zu den Classics hingezogen fühlt, auch wegen dem dort vorherrschenden Expertentum, der Auskennerei, diesem Mitreden-Können auf Solala-Niveau.
Und das ist beim Skifahren-alpin schon eingeführt und vorgestanzt.
Obwohl... obwohl ich glaube, dass wir da einer ganz großen Fiktion aufsitzen und uns etwas zurechtegzimmert haben, was es gar nicht gibt. Und das hat mit der Beschaffenheit der Zeit an sich zu tun.
Aber der Reihe nach:
Unlängst, bei einem der Alpin-Rennen, bei dem es wieder einmal acht vierte Plätze gab, haben (ohne jetzt Namen zu nennen, weil es mir nicht um eine Kritik an Personen geht, sondern am Aufblatteln eines Selbstbetrug-Systems) ein Kommentator und ein Experte die Fahrt eines Spitzenfahrers beurteilt. Die Fahrten in diesem Lauf waren allesamt schwer einzuschätzen, weil es keine klar mit dem freien Auge kenntlichen Fehler gab. Und so orientierten sich die beiden an den genommenen Zwischenzeiten. Und kommentierten dann den Fahrtteil nach der Zwischenzeit so wie die davor genommene Zeit. Und lagen minutenlang immer falsch. Weil die Zwischenzeit ja logischerweise das anzeigt, was war, und nicht das, was wird oder gerade ist, live, wenn man's einschätzen muss.
Die (falsche) Beurteilung über Zwischenzeiten
Ich, als Skifahrverweigerer, aber in Kindertagen großer Fan der Übertragungen, habe (weil ich nicht durch sowas Behinderndes wie äußere Umfeld-Bedingungen oder praktisches Selbstfahrer-Wissen abgelenkt bin) eine Art TV-Bilder-Wissensspeicher angesammelt, anhand dessen ich grobe Einschätzungen der Fahrten treffen kann. Die einzigen Infos, die ich wirklich brauche, sind solche stilistischer Natur. Wenn mir die Experten sagen, dass der sowieso ein "Schleicher" ist, beurteile ich dessen Fahrten anders, als wenn sie mir erzählen, dass die XY der weibliche Bode Miller ist. Ich habe mir auch angewöhnt, dann, wenn ich wirklich zuschaue, und da für eine halbe Stunde kontemplativ in die immer selbe Fahrt immer anderer StarterInnen versinke, gar nicht mehr auf die Zwischenzeiten zu schauen.
Weil die ablenken, nein, uns sogar ablinken.
Weil die Sprüche von wegen "sieht man gut jetzt, wie er da verloren hat!" von der nächsten Zwischen- oder dann gar der Endzeit so schon ad absurdum geführt werden.
Und allen fällt dieses Raten ins Blaue hinein gar nicht mehr auf, weil wir uns selbst gegenüber dann mit dem Überraschungseffekt argumentieren: "Ja, da hat er ja noch ganz unglaublich aufgeholt!". Dass da die Analyse in die bloße Feststellung übergeht, ist einem gott- und schicksalsergebenem Volk nicht so schwer einzureden.
Der hilf- und chancenlose Experte
In Wahrheit sind die Zeitabstände, die die Fahrer auf dem Top-Level zwischen sich legen, mit dem freien Auge nicht sichtbar. Weil es - anders etwa als auf der Bobbahn - eben mehr als nur eine ideale Linie gibt.
Selbst in den (nur in Österreich so) aufwändigen Zeitlupen/Touchscreen/Scrapboard-Studien, die die Experten nach so einem Rennen vorführen, ist oft nicht wirklich was zu erkennen; auch da wird mehr behauptet als tatsächlich analysiert. Wiewohl man dort immerhin noch mehr Input bekommt, als in der Live-Situation, wo oft außer Erstaunen (auch der Experten) gar nichts geht.
Das war immer schon so.
Ich erinnere mich an Moderator/Experte Hansi Hinterseer, der immer genau keine Ahnung hatte, was gerade vorging und sich seine Wahrheit immer im Nachhinein zurechtbastelte, und zwar so offensichtlich, dass es schon wehtat.
Das alles ist aber nicht die Schuld der Kommentatoren oder der Experten und -innen. Das liegt im System Alpin-Skifahren begründet.
Das funktioniert eben - seit einem Jahrhundert - so, dass einer nach dem anderen runterfährt und, um vergleichen zu können, die Zeit gestoppt wird.
Wir sehen also eigentlich nicht der Fahrt, sondern der Uhr beim Ticken zu.
Und richten uns unsere Wahrheit nach dem zurecht, was sie anzeigt - nicht nach der Fahrt, nicht nach dem Fahrer, der Fahrerin.
Das unzugängliche Alpin-System
Genau deshalb ist dieses Alpin-System den anderen so verdächtig, so wenig zugänglich. Anderswo wird gegeneinander gelaufen. Im Eisschnelllauf wird der Übergebliebene, der nicht in einem Paar starten darf, bedauert, weil man weiß, dass es sich nachteilig auf die Zeit auswirkt. Im nordischen Langlauf hat man nicht zufällig die Massenstarts und Sprints eingeführt. Die Crosser, Boarder und Shorttracker, also alle, die einen modernen Anspruch haben, fahren gegeneinander, oft zu viert.
Nur im Bahnensport und beim Springen geht's nicht anders. Und die Kunstläufer, bei denen Zeit sowieso keine Rolle spielt, brauchen das alles nicht.
In all diesen Sportarten hält man den Blick auf den Sportler. Selbst beim Springen blickt man nicht gebannt auf die 130 Meter-Marke, sondern sieht dem Flieger zu.
Neben Rodlern und Bobfahrern sind die Alpinen die einzigen, die nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern nach der von ihnen ausgelösten Stechuhr betrachtet werden.
Das ist, mit Verlaub, langweilig. Und auch ein wenig lächerlich.
Das sage ich im vollen Bewusstsein dessen, dass ich das selber durchaus perfektioniert habe. Ich bin eben ein altmodisch langweiliger TV-Sport-Zuschauer.
Der magielose Fetisch Zeit
Wenn aber selbst mich die Snowboard- und dann die Ski-Crosser wesentlich mehr mitgerissen haben (nicht nur wegen ihrer Stürze), dann liegt das an der sozialen Situation dieses Sports: dort fährt man mit- und gegeneinander, schubst und stupst sich, gerät zeitgleich in eine Windböse oder in Schneegestöber. Man ist nicht vereinzelt wie die Absolventinnen eines alpinen Laufs.
Die Zeit bei Alpin-Rennen ist unfassbar fetischisiert, obwohl sie nichts bedeutet - es gibt keine Rekorde, selbst Streckenrekorde sind lachhaft, weil die Streckenführung sich alljährlich ändert. Sie sind reines Vergleichs-Tools, haben nix Magisches wie beim Laufen oder Schwimmen.
Allerdings ist im Jahr 2010 der direkte Vergleich zwischen Menschen einfach vorne, und der Vergleich der Vereinzelung deutlich dahinter. Das mag historisch für die Vereinsamung und Abgeschiedenheit der Bergvölker stehen, die sich da besser dreinfinden können, mit einer globalisierten Welt hat das nur noch wenig zu tun.
Über kurz oder lang wird diese Verwendung der einzeln gemessenen, aber mittel-/langfristig bedeutungslosen Zeit das Aus für einen weltweit populären Wintersport bedeuten.
Ich sage nicht, dass die Crosser morgen die Weltherrschaft übernehmen werden - die Alpinen jedenfalls, die sie (eh nur gefühlt) irgendwann besessen haben, haben sie eindeutig verloren. Und sie werden ihren Sport neu ausrichten müssen, wenn sie vom Berg runter in die wirkliche Welt wollen.