Erstellt am: 9. 3. 2010 - 08:00 Uhr
Familienaufstellung in der Tiefsee
2K Games
Das kleine, blasse Mädchen, das zwischen toten Körpern herumtanzt, während im Hintergrund eine monströse, gepanzerte Albtraumgestalt im Tiefseeanzug über sie wacht: Es ist dieses eindrucksvolle, morbide Bild, das sich von "Bioshock" ins kollektive Spielergedächtnis eingegraben hat. Und dann ist da noch die Welt, in der sich "Little Sisters" und "Big Daddys" bewegen: Rapture, eine Unterwasserstadt in unwirklichem Neon-Jugendstil, eine retrofuturistische Tiefseemetropole im Stil der 1950er-Jahre.
Einen Mangel an Ambition kann man "Bioshock 2", dem Nachfolger des 2008 erschienenen atmosphärischen First-Person-Shooters, nicht vorwerfen. Der Hype ist bei Teil zwei naturgemäß leiser ausgefallen, und doch geht es, wie schon im ersten Teil, um große Ideen: politische Ideologien, Individualismus, Kollektivismus, Selbstbestimmung, Anarchie, Gentechnik, Kunst, Vertrauen, Moral und Wahnsinn. Ganz schön viel für ein Spiel, in dem man eigentlich einen Gutteil der Zeit auch damit verbringt, monströsen Horrorgestalten mit einem riesigen Bohrer den Schädel einzuschlagen.
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Play the movie? Play the philosophy!
In Hochglanzproduktionen wie "Mass Effect 2" oder aktuell "Heavy Rain" wird die endgültige Annäherung an Hollywood und das Medium Film versucht, doch "Bioshock 2" probt einen anderen Spagat: Während die "Play the movie"-Philosophie um das "perfekte" Spielerlebnis, filmisches Tempo und dramaturgische Emotionalität ringt, bietet die "Bioshock"-Reihe als Hauptattraktion einen beeindruckend realisierten dystopischen Weltentwurf - hier spielt, eigentlich altmodisch, nicht das interaktive Spielerlebnis die Hauptrolle, sondern die Spielewelt.
Denn rund um den spielerisch perfektionierten Shooter-Anteil entfaltet sich eine ambitionierte, vielschichtige Hintergrundgeschichte, die sich wie schon Teil eins an den Ideen der SF-Autorin und Philosophin Ayn Rand abarbeitet und dabei, neben all der mehr oder weniger brachialen Action, auch fundamentale Fragen aufwirft und zur Interpretation herausfordert. Niemand wird dazu gezwungen, sich die unzähligen im Spiel verstreuten Tonbänder auch anzuhören, die die Hintergründe ausbreiten - wer aber nur schießend durch die Gänge hastet, versäumt so einiges.
Denn abseits der linearen Handlung wird durchaus Gesellschaftskritisches zum Thema: Im Rückblick kann man etwa den ersten Teil aus dem Jahr 2007 auch als düstere Parabel auf die sich bereits abzeichnende reale Krise des Finanzsystems sehen. Die politische Utopie der Unterwasserstadt Rapture beruhte immerhin auf dem von Ayn Rand und so manchen Marktphilosophen vehement vertretenen Freiheitsversprechen des Laissez-Faire-Kapitalismus, in dem der Mensch, befreit von allen moralischen und staatlichen Einschränkungen, nach objektiven Gesetzmäßigkeiten durch seinen Egoismus automatisch zum Wohl aller handeln würde. Das grandiose Scheitern dieses Projekts war die Kulisse des ersten Teils, die (Un-)Möglichkeit freier Willensentscheidung das Thema, das - klar - in einem interaktiven Medium noch zusätzlich besondere Bedeutung erlangte.
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Kollektivismus gegen Familiensinn
"Bioshock 2" verdüstert die inzwischen bekannte Kulisse noch weiter und variiert das Thema: Zehn Jahre später ist Rapture eine Ruine, ein zerfallendes Monument des Größenwahns. An die Stelle des Industriellen Andrew Ryan tritt die Psychologin Sofia Lamb, die mit ihrer esoterischen Mischung aus Kommunismus und Kollektivismus-Heilslehre die radikale Abkehr vom Kult des Individualismus predigt - ihr tritt der Spieler als "Big Daddy" Delta entgegen, ein Perspektivenwechsel, der die Stahlkolosse aus Teil eins zum Protagonisten auf der Suche nach einer, seiner eigenen Tochter macht.
Es ist die Pointe des bedeutungsschwangeren, aber doch jederzeit spannend spielbaren "Bioshock 2", dass auch der kollektivistischen Gesellschaftsphilosophie in Gestalt des Spielers ein Gegenmodell geboten wird: In dem verqueren Patchwork-Familiendrama stiftet die morbid-vertraute Beziehung zwischen "Big Daddy" und "Little Sisters" den Sinn, der der gewohnt mordlüsternen Bewohnerschar Raptures in ihrem Sektenwahn fehlt. Wie im ersten Teil wird die Mission auch zum Prüfstein des Spielers: Die Wahl zwischen Gnade oder Rache, Altruismus oder Egoismus zieht sich wie der rote Faden bis zum Ende. "Bioshock 2" fügt dem Vorgänger spielerisch nur unwesentliche Nuancen hinzu; dafür erzählt es eine stimmigere Geschichte, die zum Schluss auch mit überraschenden Wendungen und verschiedenen Ausgängen aufwarten kann - und den Spieler seltsam melancholisch und berührt zurücklässt.
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"Bioshock 2" ist für PC, PS3 und Xbox360 erhältlich.
Klar: "Bioshock 2" ist immer noch ein Spiel, in dem man monströsen Horrorgestalten mit einem Bohrer den Schädel einschlägt - wer keine Lust hat, sich auf die Hintergrundstory einzulassen, bekommt einen linearen, soliden Shooter in immer noch faszinierender Optik und - diesmal neu dabei - Multiplayer-Komponente. "Bioshock 2" zeigt, mehr noch als der Vorgänger, dass beides, Adrenalin und Anspruch, in einem Spiel zusammen seine Berechtigung hat. In dieser Hinsicht ist es tatsächlich "the thinking man's shooter" - und es macht auch gar nichts, dass es mit einem Film recht wenig gemein hat.