Erstellt am: 22. 2. 2010 - 15:02 Uhr
Olympia-Log: Vancouver 2010, Tag 10.
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Heute Nacht war business as usual.
Die besten Bobfahrer der Welt schlitterten unter erheblichen Problemen ins Tal, vermieden gerade mal so drohende Stürze, nachdem es tags zuvor die co-favorisierten Kanadier umgedreht und bereits im Training zwei Schweizer Bobs abgeworfen wurden. Von den Stürzen und Problemen der schwächeren Piloten und der durchwegs peinlichen Performance der Österreicher erst gar nicht zu reden.
Das war die Tage zuvor im Skeleton nicht anders. Auch die Kopfvoran-Fahrer wandelten zwischen den Banden und prellten sich sämtliche Schultern. Die stürzten nur deshalb nicht, weil ihr Schwerpunkt so tief liegt, dass da technisch kaum geht.
Was sie von den Rodlern unterscheidet, die in der letzten Woche massenhaft vom Schlitten fielen. Einer, das hat man schon wieder fast vergessen, ist bei einem dieser Stürze auch über die Bahn hinaus geschleudert worden und gestorben.
Die geile Todesbahn
Jetzt, mit durchaus viel Verspätung, entwickelt sich nach der moralischen Schuldzuweisungs-Hysterie, die dieser Todesfall ausgelöst hatte, eine prinzipielle Hinterfragung der Bahn und ihrer Bauweise, also auch ihrer Philosophie.
Das Whistler Sliding Centre ist nicht nur schnell, weil schnell in der kapitalistischen Verwertungslogik "geil" und "Quote" bedeutet und diese Hochrüstung der Grenzauslotung halt ein Teil der raffgierigen menschlichen Natur ist.
Das grundsatzphilosophisch Interessante ist der angelegte Maßstab.
Es gibt zwei Möglichkeiten an einen Neubau einer Sportstätte heranzugehen: entweder ich baue sie für alle Teilnehmer, was sicherheitstechnisch normiertere Standards erfordert, oder ich orientiere mich an der Elite, der sportlichen Weltspitze und baue um deren Ansprüche herum ein High-End-Gerät.
Die Leipziger Konstrukteure von Whistler haben sich deutlich für Zweiteres entschieden. In allen bisherigen Bewerben kommen maximal die ersten Fünf mit der Bahn zurecht, sind imstande sie sauber und "richtig" zu fahren; manchmal nicht einmal alle der Top Fünf.
Der große Rest scheitert und schlingert, kommt nicht zurecht, stürzt, schleudert und stirbt halt im schlimmsten Fall.
Klientel-Politik.
Mich hat das, weil es ja ein deutsches Produkt, deutsche Wertarbeit ist, an eine aktuelle deutsche Diskussion erinnert: an die sogenannte Klientel-Politik.
Das ist im wesentlichen das, was die Frei-Demokraten (FDP) von Guido Westerwelle (mit den Ministern Brüderle oder Rösler) betreiben: nämlich Politik exakt nur für die Menschen zu machen, von denen man gewählt wurde und das nächste Mal wieder gewählt werden will.
Im Fall der FDP sind das knapp 15% des Wahlvolks, tendenziell Besserverdiener mit neoliberaler Gesinnung, Ellbogen-Gesellschafts-Befürworter, Prediger des Rückzugs des Staates aus praktisch allen Bereichen, Verfechter des Sozialabbaus etc.
Da die FDP den Gesundheitsminister stellt, wird das ohnehin bereits katastrophale deutsche Gesundheits-System, das sich in den letzten Jahren ohnehin in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entwickelt hat, noch weiter ausgehöhlt.
Außerdem kam es, überraschenderweise nach einer Millionespende eines Hoteliers, zum sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das - hinter diversen Tarn- und Täusch-Manövern - letztlich ausschließlich dazu dient, Hotelbesitzer steuerlich zu entlasten.
Zwei-Klassen-Gesellschaft
Klientel-Politik also, ausschließlich an die "eigenen Leute" denken, mit einem künstlich aufgebaueten Feindbild eines "Sozialismus", der sich in Hartz IV äußern soll, das man jetzt auch noch ausdörren will.
Natürlich muss man erwähnen, dass eine inhaltlich gelähmte CDU diesen Schwachsinn durchwinkt (man will die Wahlen in Nordrhein-Westfalen abwarten, bevor man überhaupt etwas in Angriff nimmt).
Natürlich muss man erwähnen, dass es die SPD-Regierung Schröder war, die mit der Agenda 2010 Hartz IV erst auf Schiene setzte und damit die (damals nur mit offenem Maul staunende) Opposition, die sich das nie getraut hätte auf der neoliberalen Spur überholt hatte.
Und natürlich muss man erwähnen, dass die Werte der FDP in den Keller fallen - weil die Kernklientel, die man mit solchen Maßnahmen erfreut, eben keine 15%, sondern maximal 3 - 5 sind. Der Rest der Wähler bei der letzten Bundestags-Wahl waren Protestler, Aufsteiger und Spekulanten, die hoffen eines Tages dort anzukommen (was nur ein Bruchteil schaffen wird) und jetzt draufkommen, dass sich ihre Partei nicht um sie schert, sondern eben nur die Geldgeber zufriedenstellt.
Westerwelle hat die Whistler-Bahn gebaut
Und das ist es, was mich bei der Bob/Rodel-Bahn in Whistler/Vancouver so frappant an diese offenen Unverfrorenheiten erinnert.
Auch hier hat man (also eine deutsche Konstruktions-Firma, die sich auf die hyperliberale Grundstimmung in der neuen Welt und die Raffgier einzelner Geschäftsleute eisern verlassen kann) etwas auf die Beine gestellt, was eindeutig nur für die 3-5% der Core-Follower interessant ist.
Für den deutschen Bob/Rodel-Verband etwa, der sich sicher sein kann, dass seine Fahrerinnen und Fahrer nicht gefährdet sind. Für den Weltverband und die Medien, die sich tolle Bilder und Rekorde versprechen konnten. Für die profitierenden Eliten also. Dass schon der obere Mittelstand (um in der politischen Diktion zu bleiben) nicht nur nichts von dieser Bahn haben würde, sondern auch bereits massiv gefährdet ist, interessierte die Errichter genau gar nicht.
Also: klassische Klientelpolitik.
Und genauso wie im Fall Westerwelle geht es nach hinten los. Auch die Umfragewerte fürs Whistler Sliding Center gehen (zumindest außerhalb des deutschen Fernsehens, das sich wie ein inhaltlicher Kooperations-Partner gebärdet) zurück, die Proteste waren so groß, dass die Rodler von weiter unten starten und die Bahn nicht ausfahren konnten.
Sackgassen-Politik und echtes neoliberales Profil
Bestes Anschauungs-Material ist das Blog von USA-1-Bobfahrer Steven Holcomb: der erklärt nicht nur die 50/50, der zeigt auch den zahnlos dauergrinsenden, peinlich nichtssagenden Websites österreichischer Sportler, auf welchem Niveau man mit seinem Publikum kommunizieren kann.
Nach den Sturz-Orgien im Zweier-Bob wird die Bahn für den komplexeren Vierer-Bewerb jetzt neu getunt - Übergänge werden sanfter gesetzt, Kurven-Ausgänge werden planiert. Vor allem die 50/50, die seit kurzer Zeit so heißt, weil die Chance über sie gefahrfrei drüberzukommen exakt so hoch ist.
Denn das hat der Olympia-Sport der deutschen Politik deutlich voraus: wenn etwas nicht hinhaut, heißt es nicht "Warten bis zur nächsten Wahl", ehe sich eine Sackgassen-Politik besinnt und wieder für alle und nicht nur ein schmales Patriziertum regiert, ehe sich also eine realpolitische Stoßrichtung ändert; im Sport dann wird sofort reagiert - denn da zählen die Image-Werte in der Sekunde.
Auch weil im echten Neoliberalismus (im Gegensatz zu der Kindergarten-Variante die wohl ausschließlich in FDP-Köpfen existiert) natürlich der Markt die Vorgaben setzt. Spätestens wenn der einem das Vertrauen entzieht, sollte Feuer am Dach sein.