Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel"

Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

27. 2. 2010 - 13:11

Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel

Moritz Rinke legt mit seinem Debüt einen Künstlerroman vor, der in der Tradition vieler großer deutscher Romane steht.

Paul Wendland hat es nicht einfach. Aufgewachsen in der Künstlerkolonie Worpswede, mitten im Teufelsmoor nahe der Stadt Bremen, und Enkel des berühmten Bildhauers Paul Kück, eignete sich Paul selbst nie zum Künstler. Mit seiner Flucht nach Berlin legt er den viel zu großen Namen Kück ab und nennt sich Wendland. Es folgt die Eröffnung einer so gar nicht erfolgreichen Galerie, in der Paul neuerdings Bilder von Blinden ausstellt. Auch eine Idee, die in die Hose geht.

Privat laufen ihm die Frauen davon: Seine Freundin Christina nach Barcelona, wo sie eine Forschungsstelle annimmt und seine Mutter nach Lanzarote, von wo sie ihm lediglich frische Salatköpfe schickt, die bis zu ihrem Eintreffen in Berlin längst vergammelt sind. Der Vater ist schon tot. Als das geschichtsträchtige Haus des Großvaters in Worpwede im Moor zu versinken droht, muss Paul als einziger Kück im Lande wieder zurück an den Ort seiner Kindheit, um zu retten, was noch zu retten ist.

Die Sache mit Marie und dem Reichsbauernführer

Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel"

Kiepenheuer & Witsch

Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" erscheint 2010 bei Kiepenheuer & Witsch.

Das Haus des Großvaters ist für Paul in mehrerer Hinsicht wichtig. Zum einen versinken im Garten nämlich auch die berühmten Bronzeskulpturen des alten Kücks, von Luther über Rilke, von Max Schmeling und Ringo Starr bis zur Skulptur des Sozialdemokraten Willy Brandt, der der Legende nach einmal selbst vorbei kam, um sein Abbild zu bewundern und ein Stück Butterkuchen zu essen. Zum anderen wurde Großvater Kück in Worpswede gerade zum "Künstler des Jahrhunderts" gewählt. Wenn also seine Werke und das Haus im Schlamm versinken würden, wäre nicht nur Großvaters Andenken dahin, sondern auch die Möglichkeit, das Grundstück irgendwann einmal profitabel zu verkaufen.

Während die berühmten Bronzeskulpturen langsam im Moor versinken, kommen jedoch andere beim Umbau des Fundaments zum Vorschein. Unter anderem das lebensgroße Abbild eines NS-Reichsbauernführers, der stolz die Hand zum Gruß ausstreckt. Wenn herauskommen würde, dass der geschätzte und geehrte Großvater eigentlich ein alter Nazi war, kann Paul sein hochdotiertes Erbe vergessen. Hinzu kommt, dass das Geflecht an Lügen und Geheimnissen auch vermuten lässt, dass irgendwo da unten im Teufelsmoor, im Garten der Kücks, auch die Leiche der jungen Marie liegt. Einem Mädchen, das dem alten Kück mehr als nur Modell stand, bis er es nicht mehr brauchte und von der Gestapo abholen ließ.

Für Paul beginnt ein Kampf mit der Vergangenheit und der Gegenwart. Denn unter Künstlern gibt es Neider und der größte von ihnen ist Peter Ohlrogge, früherer Geliebter von Pauls Mutter, der allzu gern die Sache mit Marie und dem Reichsbauernführer aufdecken würde.

Das Revival des Künstlerromans

Moritz Rinke, selbst in Worpswede geboren und eigentlich ja als einer der besten deutschen Gegenwartsdramatiker bekannt, legt mit seinem Romandebüt "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" einen wahrlich deutschen Künstlerroman vor. Der Leser unternimmt mit der Reise nach Worpswede auch eine Reise zurück in die Vergangenheit. An einen Ort, an dem Maler wie Fritz Mackensen, Paula Modersohn-Becker und Heinrich Vogeler, aber auch Bildhauer, Architekten und Lyriker lebten, um dem deutschen Impressionismus und Expressionismus Leben einzuhauchen.

Der Barkenhoff in Worpswede

Gemeinde Worpswede

Einer der Treffpunkte der Künstlerkolonie: der Barkenhoff in Worpswede

Der deutsche Roman hat bei Goethes "Wilhelm Meister" und Tiecks "Franz Sternbalds Wanderungen" beim Bildungsroman angefangen, nur um sich später mit der Konzentration auf den Künstler dem Schicksalsroman, von Novalis´ "Ofterdingen" bis Mörikes "Maler Nolten", zuzuwenden. Und auch Rinke steht in dieser Tradition. Hier wimmelt es von Künstlern, in deren Leben die Kunst die größte Rolle spielt. Da gibt es die erfolgreichen (Paul Kück, Großvater), die gescheiterten Existenzen (Peter Ohlrogge), die Schwindler, die sich die Stipendien erschleichen und die, die einfach zur Kunst nicht taugen (Paul Kück, Enkel). Mit viel Feingefühl und Sinn für Humor zeichnet Moritz Rinke deren Leben in verschachtelten Geschichten nach. Allzu oft wird man an E.T.A. Hoffmanns oft unglückliche Beziehung zum anderen Geschlecht erinnert, wenn Peter Ohlrogge im Puff keine Frau abkriegt und sich mit Malunterricht für Touristen über Wasser hält, oder wenn Paul Wendland-Kück von seiner Christina nur noch eine SMS mit dem Kürzel "LG" als Gruß erhält. Wenn ein "LG" folgt, dann kann es mit der Beziehung meist nicht mehr so weit her sein. An vielen Stellen erinnert Paul Wendland-Kück an einen deutschen Arthur Dent, der verdutzt dabei zusehen muss, wie sein Geburtshaus im Teufelsmoor versinkt, während Brandts Bronzestatue ihn dabei blöd angrinst.

Natürlich trägt Moritz Rinke auch gelegentlich sehr dick auf. Allzu plakativ kommt der braune Dreck im Moor zum Vorschein und die ausgestreckte Hand des Reichsbauernführers ist genauso schlecht zu kaschieren, wie die ganze NS-Vergangenheit des Großvaters. Irgendwann kommt der ganze (Geschichts-)Müll sowieso zum Vorschein und belastet die Generation, die (O-Ton Paul) "dafür ja gar nicht mehr zuständig ist" und die das Gedenken in erster Linie institutionalisiert erlebt. In einer exemplarischen Szene schlägt Paul die Hacken zusammen und grüßt den Reichsbauernführer zurück, nur um ihm nachher trotzdem ins Gesicht zu spucken: "Irgendeine Reaktion, dass er auf der richtigen Seite stand, dachte Paul, musste erfolgen." Aber die Vereinnahmung der Kunst durch die Nationalsozialisten spielt auch hier eine Rolle und greift in das Leben aller Künstler im Roman ein. Es ist damit auch eine Geschichte über die Vergänglichkeit des Ruhms und das Lieben und Verlassenwerden im Schatten der Kunst.

Ich glaube, das ist ein Roman, den Wendelin Schmidt-Dengler sehr gemocht hätte.