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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

16. 2. 2010 - 18:21

Rotz, Wasser und Gänsehaut

Halbzeit auf der Berlinale: türkische Wälder, amerikanisches Elend und ein britischer Künstler bei den Filmfestspielen.

Ich sehe die Straße aus meiner Kindheit noch vor mir. Links das Wasser, rechts die Felsen, der Asphalt schlängelt sich wie ein altes, brüchtiges Reptil durch das enge Tal. Ich hatte damals schon immer das Gefühl, dass ich mit jedem abgefahrenen Kilometer die Zivilisation ein Stück weit zurück lasse, dass ich aber auch einer neuen Freiheit entgegen fahre. Und einer neuen Wahrnehmung. Ich bin im Tiroler Unterland aufgewachsen, in einem touristisch erschlossenen Ort mit mehreren Tausend Einwohnern. Meine Großeltern aber, die waren noch von einem anderen Schlag. Eingenestelt in einem Dorf mit wenigen hundert Einwohnern, einer Kirche und einem Greißler, bestellten sie einen uralten Bauernhof. Als Bub war ich oft dort, meine Geschwister haben ganze Sommer dort verbracht und abenteuerliche Geschichten davon erzählt.

Tirol

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Kindheitsort, Erinnerungsort

Zuhause im Kino

Ich rieche noch das alte Gemäuer, sehe die massiven Holzbalken vor mir, erinnere mein Gesicht, als mir meine Oma immer und immer wieder erklärt hat, dass sie wirklich keinen Elektroherd hat, dass sie immer, wenn sie auch nur einen Tee kochen will, Holz in das schwarze Loch werfen muss. Hinter dem Hof rauschte ein Bach vorbei, mit großer Geschwindigkeit, weil er schon über den Berg herunter gestürzt ist; der dichte, dunkle Nadelwald hat mir Albträume bereitet, immer aber war ich davon fasziniert. Als Kind habe ich ihn bloß als gigantischen Spielplatz begriffen, später ist er für mich zum Rückzugsgebiet geworden: ein romantischer, zauberhafter Ort, an dem ich allen Anderen und ihren Blicken und Zuschreibungen entgehen konnte; ich sehe mich noch auf dem feuchten Waldboden liegen, stundenlang; weiß noch gut, wie mich so simple Dinge wie der Wind, der durch die Äste fährt, begeistert haben, mit offenen Augen träumen haben lassen.

Wald

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Paradies

Honigschlecker

Auf der diesjährigen Berlinale denke ich oft daran zurück; auch weil ich das Gefühl habe, dass mich der Beton um mich herum erstickt; vor allem aber, weil es einige Filme schaffen, sich unvermittelt in meine Seele zu fressen und diese Erinnerungen loszutreten. Im türkischen Wettbewerbsbeitrag Bal (Honey) von Semih Kaplanoglu ist der Wald so grün und sonnendurchflutet wie in meinem Kopf: aber es ist auch ein gefährlicher Ort, an dem Sicherheiten auslassen und Urwüchsiges durchbrichtet.

Yakup (Erdal Besikcioglu) lebt mit seiner Frau und seinem sechsjährigen Sohn Yusuf (Bora Altas) in einem abgeschiedenen Haus, nahe eines kleinen Dorfs. Er ist Bienenzüchter, wandert mit seinem erwirtschafteten Honig auf Märkte, um ihn zu verkaufen. Viel ist damit nicht zu verdienen, aber es reicht, um die kleine Familie durchzubringen. Kaplanoglu führt den Zuschauer mit einer Reihe von fast wortlosen Sequenzen in ihren Alltag ein: man beobachtet und setzt sich ein Bild zusammen. Von der schweigsamen, pragmatischen, aber tiefen Liebe zwischen den Eheleuten, von Yusufs Schwierigkeiten in der Schule (er stottert und hat Probleme, das Lesen zu erlernen), von der schlechten Honigernte, da ein plötzliches Bienensterben eingesetzt hat. Deshalb bricht Yakup eines Tages auf, um seine Stöcke in einem anderen, weiter entfernten Waldstück aufzustellen. Tagelang kehrt er nicht zurück; aus Yusufs Perspektive sieht man die besorgten Anderen, mit ihm realisiert man schleichend, dass sich etwas unwiderruflich verändert hat.

Mann, Kind, Wald

Berlinale

Vater und Sohn: Bal/Honey

„Bal/Honey“ – der letzte Teil von Kaplanoglus Trilogie, die er mit „Yumurta/Egg“ (2007) und „Süt/Milk“ (2008) begonnen hat - ist trotz seiner getragenen Geschwindigkeit kein kunstsinniger oder gar prätentiöser Film. Man begreift sehr schnell, dass die Dinge an Orten wie diesen langsamer laufen, dass man sich einlassen muss auf die natürlichen Tempi, dass man die Kontrolle zumindest teilweise aufgeben wird müssen. Ich kenne dieses Gefühl: im Sommer fahre ich gerne aufs Land, weg von Allem, auch zum Arbeiten. Immer habe ich das Gefühl, dass sich meine Wahrnehmung umstellt: Ich höre und fühle anders; konzentrierter, bewusster. Es ist die Stärke des Kinos, einem das für eine begrenzte Zeit vermitteln zu können. Es ist so stark, dass ich mir am Ende der Vorführung die Tränen aus dem Gesicht wischen muss.

Das unabhängige US-Independentkino

Die Berlinale feiert gerade Halbzeit – und darf bisher auf einen halbwegs geglückten Wettbewerb verweisen. Die Nebenschienen Panorama und Forum haben heuer dafür an Kraft eingebüßt: Erstere serviert eine eklektische Mischung aus Genrearbeiten und Queer Cinema (allesamt enttäuschend), zweitere konzentriert sich auf die anspruchsvolleren Formen des Erzählkinos, präsentiert aber vorwiegend Durchschnittsware. Ausreißer findet man im Forum ausgerechnet beim in den letzten Jahre vielfach gescholtenen und von Connoisseuren verschmähten unabhängigen amerikanischen Film.

Papas Knochen

Debra Granik (Down to the Bone), wagt sich in ihrem Hinterland-Thriller Winter’s Bone auf glattes Terrain, würzt die mit sozialrealistischem Gestus eingefangene Adaption von Daniel Woodrells gleichnamigem Country Noir-Roman mit solch unverrückbar stereotypen Bergleuten, dass er der Exploitation nahe kommt. Gerade in dieser inszenatorischen Frechheit, der Unauflösbarkeit der produzierten Widersprüche und ihrem Ausnahme-Cast liegen die Stärken von Graniks Film.

Mädchen, Wald

Berlinale

Ree ist auf der Suche nach ihrem Vater: Winter's Bone

Die 17-jährige Ree (außergewöhnlich: Jennifer Lawrence) lebt mit ihren beiden jüngeren Geschwistern und ihrer psychisch kranken Mutter in einem heruntergekommenen Häuschen. Ihr Vater wurde auf Kaution aus der Haft entlassen, hat sich das dafür benötigte Geld allerdings nur geliehen. Wenn er sich nicht bei den Behörden meldet, wird das Haus verpfändet und Rees Familie landet auf der Straße. Also macht sich die junge Frau auf die Suche und kommt einem grausigen Geheimnis auf die Spur.

Neues Niemandsland

Mädchen

Berlinale

Living in Putty Hill

Auch Putty Hill von Matt Porterfield (Hamilton) beschäftigt sich mit dem Verlust: In dokumentarisch anmutenden Episoden (gelegentlich spricht der Regisseur/Kameramann sogar mit seinen Darstellern) entwirft er ein Figurenkarussell – alle gehen auf die Beerdigung von Cory, einem jungen Mann aus dem Ort, der an einer Überdosis gestorben ist. „Putty Hill“ wirkt unorganisiert, wie im Vorbeigehen mitgefilmt. Viele Gespräche vor allem zwischen den Jugendlichen kreisen um nichts dramaturgisch Relevantes – es geht um Paintball-Turniere und Karaoke-Songs, um Zigaretten und Skateboards, immer auch um Baltimore, um die Ödnis, die Langeweile, das Nichtstun.

Matt Porterfield ist selbst dort aufgewachsen, kennt die Gegend wie seine Westentasche – er ist sich sicher, was er will und ist sich sicher, wie er es will. Wie gut seine Rechnung aufgeht, wie effektiv dieses Mosaik aus nicht zusammenpassenden Steinchen ist und wie nahe einem diese Personen gehen, merke ich beim unkonventionellen Leichenschmaus: Corys Schwester singt einen Whitney Houston-Song in die Karaoke-Maschine, kleine Kinder tanzen zum Disco-Stampfer. Über der Szene schwebt die Gewissheit, dass alles jederzeit enden kann – heute, morgen, in 50 Jahren. Schon wieder Tränen.

Kunst und Kapital

Zurück zum Wettbewerb: das Filmdebüt des britischen Street Artist Banksy, Exit through the Gift Shop, nimmt daran gar nicht Teil, läuft „out of competition“ und ist dennoch schon tagelang Gesprächsthema auf der Berlinale. Darin dreht sich alles um Thierry Guetta, einen anstrengenden Franzosen mit unglaublichen Kotletten, der seinen Cousin „Space Invader“ beim Verzieren der Pariser Wände mit Pixelmonstern filmt und daraus ein Dokumentarfilm-Projekt über die vor allem Anfang der 2000-er-Jahre explodierende und explosive Street Art-Szene entwickelt. Irgendwann trifft er auch den dauernd vermummten Guerilla-Star Banksy und darf ihn bei seinen Kunst-Aktionen begleiten und filmen.

Mann, Maske

www.slamxhype.com

Gestatten, Banksy. Oder?

Als der Brite schließlich zum „next big thing“ wird, seine Ausstellung in einem Warenhaus in Los Angeles von Brangelina und Jude Law besucht wird, er auf den Covern von Hochglanzmagazinen landet und seine eingerahmte Straßenkunst in Auktionshäusern für Hunderttausende von Euros an Sammler versteigert wird, bittet er Thierry darum, aus seinem Material einen Film zu schneiden, der die Ursprünge der Szene beweist.

Das Ergebnis ist prätentiöser Avantgarde-Schnickschnack: Banksy legt Hand an das Material und rät dem Franzosen, selbst als Street Artist aktiv zu werden. Der mietet sogleich ein noch größeres Lagerhaus an, stellt über ein Dutzend Künstler und Handwerker ein und produziert die Street Art, die er über ein Jahrzehnt lang abgefilmt hat, am Fließband nach. Bis dato ein vollkommen Unbekannter, wird seine Ausstellung zum Hype-Item; Thierry verdient in wenigen Tagen Millionen. „Exit through the Gift Shop“ ist ein blitzgescheiter Kommentar zum Kunstzirkus, lässt nicht zuletzt den Zuschauer selbst an den Instrumenten seiner Kritik (ver-)zweifeln. Denn woher soll man wissen, ob man es mit einem originären Künstler oder einem ideenlosen Epigonen zu tun hat? Eben!

Bansky, Graffiti

www.londongirl.blogspot.com

Freiluftkunst

Abblende

Über vieles kann ich an dieser Stelle jetzt nicht schreiben: Martin Scorseses großartiger Shutter Island läuft ohnehin in einer Woche in den österreichischen Kinos an, Thomas Vinterbergs Submarino ekelt mich immer noch so an, dass ich eigentlich kein Wort darüber verlieren will: kommende Höhepunkte der Berlinale sind die Weltpremieren von neuen Filmen von Oskar Roehler und Michael Winterbottom und natürlich die Preisverleihung am Samstagabend. Wer über diese oder andere Filme, die jetzt hier keine Erwähnung fanden, was wissen will, schreibt mir einfach ein Mail.