Erstellt am: 21. 2. 2010 - 15:38 Uhr
Niederträchtig by Design
Es ist ein komisches Gefühl, Verrat zu begehen. Über zwei Wochen waren Alex und ich Verbündete, schmiedeten Pläne und tauschten per Email Informationen und Freundlichkeiten aus. Was Alex, der irgendwo in England sitzt, nicht weiß, ist, dass ich ihn verraten werde. Und zwar gemeinsam mit seinem ärgsten Konkurrenten, mit dem ich seit Tagen an einer vernichtenden Überrumpelungsaktion tüftle. Alex wird überrascht sein, schockiert, fassungslos und dann zornig und enttäuscht. Und dann wird er darüber lachen. Hoffentlich. Ist ja nur ein Spiel - und zwar eines, das vor allem abseits des Spielfelds stattfindet: in Emails, im Chat und in den rauchenden Gehirnen der Mitspieler.
Die Hölle, das sind die anderen
Cryptic Comet
"Solium Infernum" heißt das Spielfeld, auf dem ich mich in den letzten Wochen in einer fast anachronistisch anmutenden Langsamkeit, Zug um Zug per Email, in ein fein gesponnenes Netz aus Lügen, Drohungen und Versprechungen verstrickt habe. Denn auch wenn maximal sechs echte Menschen einmal pro Tag ihren Zug einschicken, untereinander Abmachungen und Bündnisse schließen - gewinnen kann am Schluss nur einer. Es geht um den Thron der Hölle, und als einer von sechs Anwärtern muss der Spieler strategisch und diplomatisch an seinem Aufstieg zur höllischen Großmacht feilen. Was das Independent-Spiel, das an eine gemeinere digitale Variante strategischer Brettspiele à la "Siedler von Catan" erinnert, so außergewöhnlich macht, ist das Spieldesign: Die komplexen Regeln und die strenge Beschränkung auf extrem wenige Spielzugmöglichkeiten pro Runde machen überlegtes Vorgehen und Kooperation mit den Mitspielern zur Notwendigkeit.
Cryptic Comet
Ein ausführliches Spieltagebuch des britischen PC-Games-Blogs RockPaperShotgun gibt tiefe Einblicke in eine Partie "Solium Infernum", und zwar von allen Seiten auf einmal.
Denn nur wer seine Mitspieler per Email oder durch das Nachrichtensystem des Spiels umwirbt, Zweckgemeinschaften schließt und seinen Freunden - eben - zum günstigsten Zeitpunkt in den Rücken fällt, hat eine Chance auf den Sieg. Während in anderen Spielen "Diplomatie" als von engen Spielregeln begrenztes Tauschgeschäft funktioniert, zwingt "Solium Infernum" durch die Verlagerung der diplomatischen Komponente außerhalb des Spiels selbst zum Social Engineering - wie bringe ich meine Mitspieler dazu, das zu tun, was ich will? Durch Schmeicheln oder Drohen? Durch Falschinformation oder Tiefstapeln?
Das etwas archaisch anmutende "Play-by-Email-Konzept" bedeutet, dass eine Partie schon mal drei Wochen dauern kann - genug Zeit, um Freundschaften zu schließen und auch auf die Probe zu stellen. Gerade weil man so seine Gegner auch als "echte" Menschen kennenlernt, fällt die machiavellistische Niederträchtigkeit, zu der das Spieldesign zwingt, manchmal schwer - und wenn man selbst das Opfer wird und einem ein vermeintlich Verbündeter in den Rücken fällt, kann es schon mal emotional werden: Verrat schmerzt immer - auch wenn es "nur ein Spiel" ist.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Iron Helmet
Vertrauen und Verrat sind auch die indirekten Hauptthemen eines nur auf den ersten Blick unähnlichen Spiels: "Neptune's Pride", kostenlos direkt in jedem Webbrowser spielbar, bietet trügerisch simple Weltraumeroberung für bis zu sechs Spieler. Aber auch hier ist es das Spieldesign, das echtes diplomatisches Engagement verlangt: Forschungskooperationen, Friedens- oder Aggressionsbündnisse werden direkt verhandelt, auch hier entweder direkt per Chat im Spiel oder auch per Email. Gemeinerweise muss man in "Neptune's Pride" aber seinen Mitspielern bei allen Kuhhandeln oder Abkommen fast blind vertrauen: Hier gibt es keine spielmechanischen Garantien, dass zum Beispiel bei einem Handel beide Seiten das Vereinbarte liefern oder der Bündnisgenosse nicht im ungünstigsten Moment die Seiten wechselt - ein einfacher, aber spielerisch entscheidender Mechanismus, der zur paranoiden Grundstimmung einiges beiträgt.
Iron Helmet
"Solium Infernum" ist neben einer limitierten Demo auf der Website des Entwicklers um 30 US-Dollar beziehbar; die Lektüre des umfangreichen Handbuchs ist sehr zu empfehlen.
"Neptune's Pride" ist direkt im Browser spielbar; auf die momentan stattfindende Open-Beta-Phase soll eine erweiterte Version mit bezahlbaren Inhalten folgen.
Obwohl "Neptune's Pride", das von ehemaligen Irrational-Games-Mitarbeitern entwickelt wird, auf den ersten Blick spielerisch äußerst spartanisch erscheint, erfordert es einiges an strategischem Geschick - und das sowohl im Spiel selbst als auch im Umgang mit Freunden und Feinden. Das Ablaufen in Echtzeit stellt allerdings andere Anforderungen als das rundenbasierte "Solium Infernum": Flottenbewegungen oder die Produktion von Nachschub dauern schon mal 24 Stunden Realzeit oder mehr. Eine typische Partie dauert auch hier ein bis zwei Wochen, während derer das tägliche Abrufen der Lage im Browser und die Kommunikation mit potenziellen Verbündeten zur obsessiven Nebenbeschäftigung wird. Die tatsächliche "Spielzeit" pro Tag beträgt bei beiden Titeln unter Umständen nur wenige Minuten - das Austüfteln gemeiner Hinterhalte und das Abwägen moralischer Fragen beschäftigt aber weit darüber hinaus.
Mensch ärgere dich
Sowohl "Solium Infernum" als auch "Neptune's Pride" setzen auf eines: Dass menschliche Spieler ziemlich gern ziemlich gemein zueinander sein können - man muss ihnen nur Gelegenheit dazu bieten. Beide Spiele tun das und bieten Spielplätze an, in denen die Regeln und Abläufe nur den Rahmen für die Hauptattraktion bilden: Die tatsächlichen Dramen spielen sich abseits des Spiels ab - im "richtigen" Leben, zwischen den Spielern. Wer die zeitraubende Epik etwa von "EVE Online" oder anderer MMOs scheut, aber trotzdem sein strategisches Geschick - und seine Leidensfähigkeit - gegen echte Mitspieler erproben will, hat in beiden Titeln Gelegenheit dazu. Doch Vorsicht: Auf Spielplätzen wird bekanntlich auch oft geweint. Und es ist eben ein komisches Gefühl, Verrat zu begehen. So richtig gewöhnt man sich nie daran.