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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

12. 2. 2010 - 18:24

Beim Maskenball

Die Berlinale feiert 60. Geburtstag, lässt Allen Ginsberg heulen und zeigt den neuen Polanski als Weltpremiere

Grau, Grau, Grau, Braun, Grau, Grau, Grau. Die Farben der Stadt rauschen in Sequenzen an mir vorbei, fast wie in einem strukturalistischen Film. Alles löst sich auf, setzt sich erst wieder zusammen, als mein Taxi an einer roten Ampel halten muss. Ich habe eine sehr gespaltene Beziehung zu Berlin, der Stadt, die sich angeblich immer wieder neu erfindet, in der ein Trendbezirk den nächsten im Monatstakt ablöst, die Kreativenkarawane in immer neuen Ruinen ihre Zelte aufstellt.

Vor dem Sturm, vor der offiziellen Eröffnung der 60. Berlinale nehme ich mir eine Auszeit, inhaliere die Kälte und schlittere über das zentimeterdicke Eis auf den Trottoirs in Neukölln, Boddinstraße. Türkische Familien drängen sich an mir vorbei, in einer Erdgeschoßwohnung zwischen einer düsteren Klause und einem verfallenen Altbauhaus sehe ich durch die Fenster, wie junge Menschen aus Kleister Skulpturen errichten: verzerrte Masken menschlicher Gesichter liegen auf dem Fensterbrett. Sie verstehen Berlin ebensowenig wie ich.

Vielleicht liegt es daran, dass die Berlinale im Februar stattfindet, zu einer Zeit, in der die Stadt mit ihren vielen Flächen noch verlorener und uneinladender wirkt als sonst. Mein Taxifahrer, einer mit Berliner Schnauze, erzählt mir, als wir auf das Areal vom Potsdamer Platz einbiegen, „dass im Sommer hier alles nach Scheiße riecht. Die Kanäle haben sie damals versperrt, damit keiner illegal unter der Mauer durch kriechen konnte. Deshalb staut sich dort die Kacke, und im Sommer stinkt es gewaltig.“ Wir fahren weiter. Er meint: „Wenn du noch ein Stück von der Mauer als Souvenir mitnehmen willst, dort hinten steht noch was. Aber nicht mehr lang. Die Touristen bauen sie ab.“ Ja, die Stadt verändert sich. Unaufhaltsam.

Dieter Kosslick

Variety

Berlinale-Chef seit neun Jahren: Dieter Kosslick

Pokern um das Weltkino

Inmitten all dieser Mutationen, Verschiebungen und Umwerfungen steht die Berlinale wie eine Festung unter der Aufsicht von Dieter Kosslick - es ist sein neuntes Jahr als Festivaldirektor. Er ist ein Kulturmanager, einer der die abgemagerte Jury-Teilnehmerin Renée Zellweger mit einem bescheidenen Berliner Blumenbukett am Flughafen in die Arme nimmt, ein amikaler Gesell, der genauso den 85. Tuttlinger Blumenkorso organisieren könnte wie eine der weltweit wichtigsten Filmveranstaltungen. Er hat das Festival in das neue Jahrtausend geführt, hat es geöffnet für die Branche (der European Film Market ist eine der Hauptdrehscheiben des Filmmarktes geworden) und damit gleichzeitig das Profil, das Antlitz verloren.

Die Berlinale ist wie eine dieser Masken, die ich in Neukölln gesehen habe: annähernd menschlich, aber leer, ohne Wiedererkennungsmerkmale. Das vor allem, da der prestigeträchtige Wettbewerb längst auch zu einem Filmpolitikum geworden ist: Über den Roten Teppich am Marlene-Dietrich-Platz flanieren die Stars nicht nur, um den Glamour in die Betonstadt zu bringen; sie flanieren, weil sie Kapital auf Beinen sind, weil ihre Auftritte in den Hochglanz-Gazetten abgedruckt werden und den Weltvertrieben der „selektierten“ Beiträge schon symbolisches Geld in die Kassen spielen.

Die großen Filmfirmen dealen auf Festivals als wär`s ein Pokerspiel: wenn das Festival einen Film unbedingt im Programm haben will, müssen sie einen anderen aus demselben Katalog auch programmieren. In diesem eitlen Karussell noch nach Sinn und Unsinn zu suchen, dem Wettbewerb hier – wie auch in Cannes oder in Venedig – mehr Bedeutung beizumessen als zufällig gesehenen Filmen wäre reine Idiotie. Weil ein Film bei der Berlinale läuft, bürgt das noch lange nicht für seine Qualität. Öfter ist es das Ergebnis eines geglückten Lobbyismus, eines geschlossenen Deals und vielen Freundschaftsdiensten.

Exil-Taiwanesen und Export-Chinesen

mongolei, Frau

www.indiewire.com

Tuyas Hochzeit erhält 2007 den Goldenen Bären der Berlinale

Wang Quan’an, der chinesische Regisseur des diesjährigen Eröffnungsfilms Apart Together hat 2007 den Goldenen Bären für sein in der Mongolei angesiedeltes Drama „Tuyas Hochzeit“ erhalten. Seine neue Arbeit lässt mich vor lauter Scham tief im roten Polstermöbel des Cinemaxx-Kinos versinken: Dem Film vorangestellt ist eine knappe Einführung in die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts. 1949, nach der Ausrufung der Volksrepublik China, gehen die Anhänger der nationalistischen Kuomintang (KMT) ins taiwanesische Exil.

Chinesen

Berlinale

Apart Together

„Apart Together“ erzählt von der Rückkehr von einem politischen Flüchtling zu jener Frau, die er vor vielen Jahrzehnten zurück gelassen hat. Es wird ein Fest ausgerichtet, man beschnuppert sich, erzählt sich aus den jeweiligen Leben, spaziert durch Shanghai, das Wang Quan’an immer wieder in Panorama-Vistas von alten Häusern und modernen Wolkenkratzern programmatisch einfängt. Der Umbruch muss kommen: die alten Liebenden finden wieder zueinander, es kommt zur herbstlichen Romanze mit den üblichen Kollateralschäden und nassen Augen – auf der Leinwand und im Zuschauerraum.

Jetzt könnte man diesen Film einfach so beiseite wischen als sentimentales, oberflächliches Melodram, wäre da nicht seine penetrante Verwendung von politischen Themen, die allerdings in der Geschichte von „Apart Together“ überhaupt keine Resonanz finden. Die Vertreibung von Andersdenkenden, die Kulturrevolution, schließlich auch die radikale Modernisierungspolitik des Pekinger Apparats und die vorgenommenen Zwangsumsiedlungen von Hunderttausenden hängen um den Hals dieses Films wie falsche Diamanten: Wang Quan’an weiß zu gut, was in westlichen Köpfen vorgeht, was bei Wohlstandszusehern ankommt – und er verwandelt seinen solid inszenierten Film in ein obszönes Planspiel mit politischen Symbolen.

Nostalgische Geister

Das schlagkräftigere Werk im Wettbewerb stellt Roman Polanski: Sein Der Ghostwriter, basierend auf Robert Harris’ Roman „Ghost“ erzählt von einem jungen Autoren (Ewan McGregor), der die Autobiografie des britischen Premiers Adam Lang (als kaum verschlüsselter Tony Blair glänzt Pierce Brosnan) niederschreiben soll. Auf dessen Luxus-Domizil auf der Insel Martha’s Vineyard verdichten sich die Spannungsfäden des Drehbuchs zu einem irritierenden Verwirrspiel. Jeder spielt ein falsches Spiel, hat neben seinem privaten Gesicht noch eine Maske für die Öffentlichkeit liegen.

Mann, Frau

Berlinale

Kim Cattrall als Langs Assistentin mit Ewan McGregors "Ghostwriter"

Der namenlose Autor stolpert bald über erste Ungereimtheiten in Langs Biografie. Als der vom Den Haager Kriegsverbrechertribunal angeklagt wird, folgt er einer Spur, die ihn vom Unfalltod seines Vorgängers über Gespräche mit Inselbewohnern (darunter Eli Wallach!) hin zur überraschenden Auflösung des Rätsels führt. „Der Ghostwriter“ ist im besten Sinne altmodisches Handwerkskino, ein klassischer Polit-Krimi, der auch an die Siebziger-Filme von Costa-Gavras erinnert.

Jede Figur, jeder Schauplatz, jeder Handlungsstrang im Buch ist dabei aufgeladen mit gesellschaftspolitischem Bewusstsein, dem Drang, die falschen Mächtigen und ihre Verästelungen mit den mächtigen Falschen aufzuzeigen und sie dafür an den Pranger zu stellen. Für Lang wird das Naturidyll auf der Insel, ähnlich wie für Polanski sein Schweizer Chalet (ein ironischer Twist für die Filmgeschichte), zum Gefängnis; „Der Ghostwriter“ stimmt einen nostalgisch: vor allem, da er in einer Welt spielt, in der die Politiker für ihre Verbrechen bestraft werden.

Männer

Berlinale

Pierce Brosnan geht es an die Wäsche: Der Ghostwriter
Zwei Männer

Berlinale

James Franco als Allen Ginsberg in "Howl"

Zum Heulen

Ob sich Jury-Präsident Werner Herzog vom konventionellen Charme Polanskis überzeugen lassen wird, bleibt abzuwarten. Starke Konkurrenz ist jedenfalls noch keine auszumachen, auch wenn Howl von Rob Epstein und Jeffrey Friedman (The Celluloid Closet) Sympathiepunkte davon tragen wird. Entwickelt aus der Biografie des Beat-Poeten Allen Ginsberg, mäandert das Indie-Drama zwischen Fake-Dokumentation, Gerichtsdrama und Animationsfilm hin und her, ohne jemals wirklich abzuheben. James Franco spielt den jungen Ginsberg, der in den späten Fünfziger Jahren, zwei Jahre nachdem er für seinen Gedichtsammelband „Howl“ wegen „obscenity“ angeklagt worden ist, den Regisseuren ein Interview gibt. Dazwischen geschnitten sind Zeugenaussagen der Verhandlung (mit Mary-Louise Parker und Jeff Daniels in Kurzauftritten) und halluzinatorische Animationen von Passagen des Ginsberg-Gedichts. „Howl“ will kein biografisches Fragment sein, sondern, ausgehend von diesem Präzedenzfall von vor fünfzig Jahren, eine Linie ziehen in die Gegenwart, in der Janet Jacksons Brustwarze in einer Fernsehübertragung zu einem „Nipplegate“ führen kann.

To Be Continued

Die Berlinale läuft sich gerade erst warm, die größten Joker hat Kasper Kosslick noch im Ärmel. Am Wochenende stellen Thomas Vinterberg, Martin Scorsese und der Graffiti-Künstler Banksy ihre neuen Filme vor. Was davon zu halten ist, und ob ich mich noch auf den Beat von Berlin einstimmen werde können, das steht hier in Kürze.