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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

12. 2. 2010 - 10:53

Monströse Partnerkriege

Da kann auch Lars von Trier noch was lernen. Mit "Possession" ist einer der genialsten Beziehungsschocker aller Zeiten endlich im deutschen Sprachraum auf DVD erschienen.

Eine Berliner U-Bahn-Station. Die Kamera folgt einer seltsam lachenden Frau, die eine Rolltreppe hinauffährt und dann einen Gang entlanghetzt.

Das Lachen steigert sich, die Frau schleift mit ihrer Einkaufstasche an den Mauern entlang, zerbricht die darin enthaltene Milchflasche, schüttelt dann wie besessen ihre langen, schwarzen Haare, beginnt einen rhythmischen Tanz, der sich schnell in völlige Ekstase steigert.

Über und über mit Milch besudelt, fällt sie in entrückte Posen, kreischt, zuckt spastisch, stößt gutturale Laute aus. Dann wirft sich die Frau auf den Boden, wirbelt dort herum, wälzt sich im Schmutz.

Schließlich hockt sie, in der nächsten Einstellung, auf den Knien und erbricht dickflüssigen weißen Schleim, ebensolcher rinnt auch zwischen ihren Beinen hervor, vermischt mit Blut.

Possession

http://www.andrzej-zulawski.com

Es ist eine Ikone des französischen Kinos, die sich in dieser verstörenden Szene an die Grenzbereiche des Schauspiels wagt.

Die göttliche Isabelle Adjani hat sich in der Filmgeschichte zwar auch mit Streifen wie "Mortelle randonnée" (Das Auge) oder "La reine Margot" (Die Bartholomäusnacht) für immer verewigt. Aber keine ihrer zahlreichen faszinierenden Rollen kann mit dem cineastischen Amoklauf namens "Possession" aus dem Jahr 1981 mithalten.

Es ist der befremdlichste Film im Schaffen eines der ganz großen unterschätzten Regisseure überhaupt. Der in Paris lebende Exil-Pole Andrzej Zulawski steht für vollends theatralisches Kino, in dem sich die psychischen Probleme der Charaktere in physischen Ausbrüchen manifestieren.

Soll heißen: Beinahe in allen Streifen des kontroversiellen Regisseurs begleitet die Kamera exzentrische Protagonisten hautnah, wie sie durch klinische Szenerien hetzen, laufen, schreien. Sämtliche Spielarten von Hysterie durchziehen Liebesdramen wie "L'important c'est d'aimer" (Nachtblende), in dem Klaus Kinski und Romy Schneider aufeinanderprallen. Oder "L'amour Braque", in dem Zulawskis Ex-Ehefrau Sophie Marceau ihren "La Boum"-Ruf in einem Inferno aus Sex und Tränen verliert.

Wem das Gegenwartskino oft zu bieder, brav und berechenbar vorkommt, der kann sich in diesen opernhaften, maßlosen Filmen verlieren.

Possession

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Mit "Possession", seinem Schlüsselwerk, das vor kurzem auch endlich im deutschen Sprachraum angemessen auf DVD veröffentlicht wurde, hat sich Andrzej Zulawski aber selbst übertroffen.

Dieser Film ist das, woran Lars von Trier wohl mit "Antichrist" auf halber Strecke scheiterte: An der Oberfläche ein Horrorstreifen, in Wahrheit aber ein Beziehungsschocker, der die Stilmittel des Gruselgenres nur benutzt, um von extremen Gefühlen zu erzählen.

"Possession" beginnt zunächst wie ein Melodram über zwei Menschen, die aneinander vorbeireden und -leben. Marc (Sam Neil) ist ein Spion, der nach einer Mission zu seiner Frau Anna (Adjani) zurückkehrt, die mit dem gemeinsamen Kind in Westberlin, direkt an der Mauer, lebt.

Nach einer Reihe gescheiterter Annäherungsversuche bemüht sich der Mann, die Entfremdung seiner Frau näher zu ergründen. Als er auf die Spur eines Liebhabers kommt, ist Marc am Boden zerstört und versucht verzweifelt, seine Ehe zu retten.

Gleichzeitig zieht ihn die rätselhafte Kindergärtnerin seines Sohnes an, die der eigenen Frau auffallend ähnlich sieht (ebenfalls Isabelle Adjani). Ein Verwechslungsspiel beginnt, das verblüffend an ein anderes Meisterwerk erinnert, David Lynchs viel später entstandenen "Lost Highway".

Possession

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Als ein vom Ehemann beauftragter Detektiv Anna in ihrer geheimen Zweitwohnung aufspürt, verlässt "Possession" die vage Ebene des Realismus. Eine nur entfernt menschenähnliche Kreatur, der wirkliche Geliebte, verbirgt sich in dem Appartement und wird von der dem Wahnsinn nahen Frau mit Waffengewalt verteidigt.

Als Marc gegen Ende des Films hinter das dunkle Geheimnis von Anna kommt, kappt Andrzej Zulawski die Verbindungslinien zum übernatürlichen Horror-Thriller und betritt vollends den surrealen Bereich.

Dabei ist "Possession", wie die meisten Filme des Regisseurs, alles andere als ein bemühtes Avantgarde-Experiment. Das alienartige Ding, mit dem Isabelle Adjani genüsslichen Sex hat, steht als Metapher für unerfüllte Lüste und unterdrückte Obsessionen.

Wo andere Filmemacher auf ausgefeilte Dialoge setzen, um extreme Gemütszustände zum Ausdruck zu bringen, genügen Zulawski sprachliche Mittel nicht mehr. Seine "Szenen einer Ehe" werden zu einem entfesselten, grausamen Ballett, bei dem die Partner einander durch den Raum schleudern oder sich in einer Sequenz, beinahe rituell, in der Küche mit Messern verletzen.

Possession

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Verstanden hat diesen Zugang anno 1981 kaum jemand, es hagelte negative Kritiken. Sich ernsthaft mit dem pessimistischen Blickwinkel des Film beschäftigen, das wollten auch in den Jahren danach nur wenige.

Stattdessen wurde "Possession" wahlweise als spekulativer Genre-Beitrag oder kunstgewerbliche Pseudo-Provokation gebrandmarkt, zensuriert, verstümmelt oder, wie im deutschen Sprachraum, gar nicht erst in die Kinos gebracht.

Erst Anfang der neunziger Jahre begann eine neue Auseinandersetzung mit dem in Frankreich lebenden Zulawski, die sein Schaffen als Beispiele eines kompromisslosen Kinos der rastlosen Körper begreift.

Dieser Regisseur, der immer noch als Geheimtipp gilt, ist der existentialistische Anti-Godard, ein Verwandter von Lynch und Cronenberg, ein exaltierter, manierierter Leinwandrebell. Auch wenn sich meine persönlichen Liste der All-Time-Lieblingsfilme immer wieder ändert, "Possession" bleibt stets in den Top Ten.

Possession

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