Erstellt am: 9. 2. 2010 - 19:20 Uhr
"Bilal": Reisebericht aus der Hölle
Das Buch "Bilal" des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti ist ein Reisebericht aus der Hölle. Er schloss sich afrikanischen Migranten an, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um nach Europa zu gelangen. Seine Reise führte ihn von Westafrika durch die Sahara bis an die libysche Grenze. Er wurde Zeuge, wie Flüchtlinge unter unfassbaren Zuständen wie Waren von Menschenhändlern auf vollkommen überladenen LKWs durch die Wüste geschleust werden. Unterwegs werden die Flüchtlinge von korrupten Polizisten und Militärs überfallen, ausgeraubt und gefoltert. Immer neue Steuern werden von den Polizisten und Militärs erfunden und Frauen müssen diese erfundenen Zölle monatelang als Prostituierte abarbeiten. Strandet ein LKW in der Wüste, werden die Passagiere dem sicheren Tod überlassen.
fabrizio gatti
Libyen verweigerte Gatti ein Visum, aber er konnte seine Recherche mit Hilfe seiner nigerianischen Freunde James und Joseph fortsetzten. Er hatte die beiden auf der Sklavenroute durch die Wüste kennengelernt. In E-Mails schildern sie Gatti was geschieht, wenn die libysche Polizei afrikanische Migranten entdeckt: Sie werden unversorgt in der Wüste ausgesetzt, wo sie verhungern oder verdursten. Andere landen in Abschiebelagern, wo man sie foltert. Diejenigen, die dazu in der Lage sind, machen sich mittellos auf den Heimweg, selbst wenn er Monate oder Jahre dauern kann. Im zweiten Teil seines Buches lässt sich Gatti verkleidet als Kurde Bilal in dem Auffanglager auf der italienischen Insel Lampedusa internieren. Ein Ort, wo Menschen, die ihr Leben riskierten um nach Europa zu gelangen, mit Beschimpfungen, Misshandlungen und Drohungen willkommen geheißen werden.
fabrizio gatti
Ich hab mich mit Fabrizio Gatti über sein Buch, seine Erfahrungen, Sklaverei und Schattenwirtschaft unterhalten.
In deinem Buch nennst du die Menschen, die du auf deiner Reise in Afrika getroffen hast, Helden. Was macht sie für dich zu Helden?
Sie riskieren ihr Leben, um ihren Familien, ihrer Community ein besseres Leben zu ermöglichen. Wenn eine Person für einen solch noblen Zweck das Leben aufs Spiel setzt, dann ist sie für mich ein moderner Held. Wir müssen es den Menschen hoch anrechnen, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten, nicht nur um ihrer Familie ein besseres Leben zu bieten, sondern sie tragen auch unser Wirtschaftsystem. Sobald sie hier sind werden sie Teil unserer Wirtschaft. Sie gehören zu uns.
Wie lange hast du deine Reise vorbereitet und was war deine Motivation, dich diesen Strapazen auszusetzten?
Vier Jahre haben die Vorbereitungen gedauert. Ich war sehr neugierig, etwas über den Moment zu erfahren, an dem eine Person beschließt, die Heimat zu verlassen. Der Moment, in dem ein Mensch realisiert, dass der Ort an dem er geboren und aufgewachsen ist, keine lebenswerte Zukunft mehr bieten kann. Die erste Reise, die dieser Mensch unternimmt, ist eine mentale. Ich war zu Beginn meiner journalistischen Karriere ein Reporter für eine Tageszeitung in Mailand und Migration wurde immer im Kontext von Verbrechen thematisiert. Ich realisierte, dass wir eine verzerrte Version der Realität zeigten, weil der Großteil der MigrantInnen nichts mit Verbrechen zu tun hat. Sie bilden eine neue soziale Klasse, die von unserer Wirtschaft ausgebeutet wird, speziell in illegalen Beschäftigungsverhältnissen. Ich versuche, diese neue soziale Klasse, die wir einfach Clandestinti - illegale Immigranten - nennen, zu beschreiben. Ihnen ihre Menschlichkeit zurückzugeben, indem ich ihre Vornamen, ihre Ziele, ihre persönlichen Geschichten publiziere. Wir in Europa kennen nur den Endpunkt der Reise. Ich wollte meine Leser mitnehmen in die Wüste, so dass sie die Realität sehen.Und meine Hoffnung ist, dass wenn sie in Berlin, München, Wien, Mailand im Zug neben einen afrikanischen Freund sitzen, in ihm nicht nur den Migranten sehen, sondern einen Helden, weil dieser Mensch so eine gefährliche und schwere Reise überlebt hat.
Dein Buch beweist, dass Sklaverei nichts ist, das der Vergangenheit angehört, nichts ist, das ein Problem der sogenannten Dritten Welt darstellt, sondern dass Sklaverei in Europa existiert und dass unser Wirtschaftssystem in hohem Maße darauf angewiesen ist.
Wir leben immer noch im Mittelalter, wenn man sich vor Augen führt, wie wir Sklavenarbeit in der Wirtschaft ausbeuten. Ohne diese Sklavenarbeitskräfte würde unser Wirtschaftssystem nicht funktionieren. 23 Prozent der italienischen Wirtschaft ist sogenannte Schattenwirtschaft. Wirtschaftssektoren, die von kriminellen Syndikaten kontrolliert werden, Sektoren, die keine Steuern zahlen. Diese Sektoren brauchen illegale Arbeitskräfte, weil angemeldete Arbeiter Menschenrechte haben. Sie können sich über ihre Arbeitsbedingungen und Löhne beschweren, sie können zu ihrer Gewerkschaft gehen und bei Verstößen ihren Arbeitgeber klagen. Eine illegale Ökonomie braucht illegale Arbeitskräfte, weil sie rechtlos sind. Wenn sie die Autoritäten zu Hilfe rufen, damit ihre Menschen- und Arbeitsrechte eingehalten werden, werden sie deportiert, weil sie illegal hier sind. Und das ist Sklaverei. Das große Problem ist, dass wir Migranten nicht als Menschen, sondern als Zahlen sehen.
fabrizio gatti
Was für Lösungen siehst du auf politischer und auf moralischer Ebene?
Es ist nicht leicht in einer Zeit Lösungen zu finden, in der sich Rassisten als politische Partein inszenieren, denen zugestanden wird, uns zu regieren. Ich spreche hier zum Beispiel von der Lega Nord in Italien, die in der Berlusconi-Regierung sitzt und Regierungsentscheidungen zur Migrationspolitik mitbestimmt. Ich bin mir sicher, dass wir einen sehr gefährlichen Weg eingeschlagen haben. Wir haben in Europa ein System der Diskriminierung, eine Apartheid eingeführt. Es wäre jedoch nicht schwierig, eine neue Migrationspolitik zu starten. Wir müssten nur Menschenrechte respektieren und jedem Menschen die gleichen Rechte zugestehen.