Erstellt am: 6. 2. 2010 - 11:46 Uhr
Die Spezialisten
Ich geh' in Deckung: Regisseursnamen gewittern um mich herum wie Kugelgeschosse; in meinem kleinen persönlichen Schützengraben kauere ich und hoffe, nicht getroffen zu werden. Bei Festivals wie Rotterdam laufen sie auf, die Freaks & Geeks der internationalen Cinephilie, die von Filmausstellung zu Filmausstellung, von Kinosaal zu Kinosaal tigern, bildabhängige Weltbürger im eigentlichen Sinn: wenn sie aufeinandertreffen kommt es zum Krieg der Welten oder zum Schulterschluss. Vor einem bauen sich Dialoge auf, die für Außenstehende so unentzifferbar sind wie die Funktionsweise des Large Hydron Collider oder die Quantenphysik: Kuratoren arbeiten mit Festivals zusammen, programmieren Retrospektiven von verlorenen, verdammten Filmen, von denen alle schon gelesen haben, die aber noch kaum jemand gesehen hat. Auf den Stühlen sitzen sie wie andere bei einer russisch-orthodoxen Mette, werfen sich vor Start noch Bonmots zu, fragen sich aus, vergleichen Wissen, trumpfen auf, freuen sich über jeden Volltreffer, der sie in dieser merkwürdig inzestuösen, fast geheimbündlerisch aufgezogenen Clique aus vielen Buben, einigen Männern und wenigen Frauen als Spezialisten markiert.
Surrt der Projektor wird gebetet, zwei Stunden lang: was für andere Vergnügen ist, wird hier zu harter Arbeit; jeder Frame ein Code, der mit Kontext-Wissen wie der Biografie des Regisseurs oder der Schauspieler und den jeweiligen Produktionsbedingungen abgeglichen werden muss, um nach dem Aufwachen und Austritt aus dem Saal stichhaltige Expertisen vorlegen zu können, um beim obligatorischen, wenngleich spielerischen Abprüfen des Wissens nicht zu versagen. Auch wenn sich das hier jetzt so anhören mag: Ich finde diese international agierende und lobbyierende Cineasten-Clique nicht unangenehm oder gar abstoßend, selbst wenn ich aufgrund meines schlaksigeren, wenngleich ebenbürtig leidenschaftlichen Umgangs mit dem Medium selbst nie dazu gehören kann, das auch nicht will. Ich sympathisiere mit ihnen: ich bin der Beobachter.
Schwerer als die Gespräche zwischen ihnen und die gegenseitigen Wissenstests wiegt allerdings die Einengung des Sichtfelds, dass die Clique meinungsbildend wirkt und ihre eigenen Götter kürt, die dann wiederum anderen Filmemachern das Rampenlicht rauben: gar nicht bewusst, aber tatsächlich. Die Wellen dieser Bewegungen kann man alljährlich an den in intellektuellen Filmschriften wie dem Internet-Magazin Senses of Cinema oder dem amerikanischen Film Comment veröffentlichten Bestenlisten ablesen, die sich, trotz gepredigter und gelebter Cinephilie, immer ähnlicher werden. Es dreht sich alles im Kreis, es ist ein Ringelspiel mit Anfassen: gerade junge Filmjournalisten versäumen es, sich in ihren Texten einen wirklich unvoreingenommenen Blick zu bewahren, da sie, wenn sie etwas gelten wollen, von dem Zirkel beobachtet und be-, im schlimmen Fall sogar verurteilt werden. Es braucht also eine Kaltschnäuzigkeit, dann einfach hinter seinen persönlichen Favoriten zu stehen, vor allem dann, wenn sie gegen den Eliten-Strom anschwimmen. Insofern will ich in diesem, meinem abschließenden Bericht zu den diesjährigen Filmfestspielen von Rotterdam auch keine Bestenliste veröffentlichen, keine obskuren Wiederentdeckungen feiern, sondern ein Sammelsurium an Eindrücken mit euch teilen.
Der Schuhbaum
Was die deutschsprachige Wikipedia nur als provinziellen Gummistiefelweitwurf kennt, ist im angloamerikanischen Sprachraum als Shoe Tossing bekannt und meint das vom Zufall gesteuerte Hochwerfen des jeweils eigenen Schuhwerks, angeschlossen an die Hoffnung, die Treter kommen an einem besonders pittoresken Platz zu hängen. An einer der meist befahrenen Straßen Rotterdams, zwei Gehminuten vom Cinerama-Kino entfernt stehen zwei Schuhbäume: an kahlen Ästen hängen Dutzende, vielleicht sogar hunderte Sneakers vor einem Skater-Laden, baumeln im kalten Winterwind wie Baumfrüchte aus der Twilight Zone. Jedes Mal, als ich in den vergangen Tagen daran vorbei gegangen bin, haben mich zwei Gedanken durchjagt: hoffentlich fällt kein Schuh auf meinen Schädel. Und: wieso habe ich sowas noch in keinem Film gesehen. Immer noch glaube ich fest daran, dass Werner Herzog in sein nächstes Projekt irgendwas dergleichen einbauen wird: stell dir vor, Nicolas Cage sitzt auf einem Schuhbaum.
Dim Sum
Rotterdam hat prozentuell gesehen einen der höchsten Anteile an chinesisch-stämmigen Einwohnern aller europäischen Städte. Rund um das Festivalareal herum findet man unzählige Supermärkte, in denen man asiatische Köstlichkeiten kaufen kann, von denen man in Wien nur (alb-)träumen kann. Dim Sum, die gedampften oder frittierten Knödeln und Reisteigtaschen bekommt man in Rotterdam an jeder Ecke und in verwirrender Variation kredenzt, besonders gut sind sie aber im Golden Palace. Finster dreinblickende, generell pragmatisch eingestellte Kantonesen stellen Behältnis über Behältnis auf deinem Tisch ab: was vorhin nur eine Nummer in der unübersichtlichen Speisekarte war (Dumpling with dough inside – 93, porkvlees – 25), dampft vor einem, das riecht und schmeckt man dann, auch wenn man nicht mehr will. Ein koreanischer Freund von mir hat vor zwei Jahren in meiner Gegenwart Hühnerfüße verspeist: ich hatte keinen Appetit mehr. Meine Nerven werden gekitzelt, immer wieder beim ersten Biss in die Hülle, weil ich ohnehin nie weiß, was daraus dann hervorquillt. Dass immer wieder Kuhinnereien auf den Speisekarten zu finden sind, macht mich nur noch nervöser. Mit zittriger Hand saufe ich bitteren Jasmintee nach, alles muss die Kehle runter.
Amer
Eine der schönsten Nebenerscheinungen in Rotterdam ist, dass man sich hier mit so vielen jungen Regisseuren, die nervös, weil lampenfiebrig durch die Stadt wandern, treffen kann, wie nirgend sonst. Ich habe hier schon Freundschaften geschlossen, die hoffentlich mein ganzes Leben lang anhalten werden: mit Filipinos und Südkoreanern, Italienern und Engländern. Amer bleibt einer meiner Lieblingsfilme des frischen Jahres, ich habe bereits aus Sitges darüber geschrieben. Eine visuell überwältigende, überraschend intelligente und inspirierte Ode auf das italienische Subgenre des „Giallo“, komponiert von Helene Cattet und Bruno Forzani. In den letzten Tagen hatte ich die Gelegenheit beide zu treffen: mit Grinsegesichtern und zittrigen Fingern sitzen sie mir gegenüber, sind die gekünstelte Situation eines ausgemachten Interviews offensichtlich noch nicht gewohnt, fühlen sich leicht unwohl angesichts des großen Erfolgs ihres Debütfilms, der 2010, so viel wusste ich schon im Oktober 2009, die ganz große Festivalrunde drehen wird und den beiden hoffentlich eine spannende Karriere ermöglicht. Ihre Gesichter, ihre Unverbrauchtheit, ihre Freude, das wird mir bleiben vom diesjährigen Rotterdam-Besuch.
Sitges
FIFF
Sex/Less
Ein Kurzfilm des Südkoreaners Kim Kyungmook: im Viereck beobachtet man einen gutaussehenden jungen Mann. Zuerst weiß ich nicht, was er will, was er macht, was er machen wird. Ich sehe nur sein Gesicht und den Schulteransatz, immer wieder leckt er sich über die Lippen, blickt direkt in die Kamera. Unangenehm, intim. Ich erwidere seinen Blick. Seine rhythmischen Bewegungen decodiere ich schließlich als Masturbation: weil er aus der Leinwand schaut, frage ich mich: Muss ich seine Fantasie sein? Muss ich mir vorstellen, was er sich vorstellt? Es lässt mir keine Ruhe. Dann, ein zweites Viereck, direkt neben seinem Gesicht: verschwommene Formen, ich meine einen Sex-Akt zu erkennen; wiederum verraten es mir die Bewegungen, die ich als Projektion der Fantasien des jungen Mannes erkenne. Der Ausdruck in seinem Gesicht verrät, dass er sich dem Höhepunkt nähert, irgendwann wirft er den Kopf zurück: er kommt im Off-Raum, der Film geht zu Ende. Sex/Less heißt die Miniatur: eine schön-trotzige Arbeit wider den
Webcam-Tourismus, gleichzeitg voyeuristisch und intim und zärtlich. In meinem Herzen, in meinem Hirn.
IFFR
Es gäbe noch viel, viel mehr. Menschen, die unter Tischen hocken. Langeweile-Vertreibungsstrategien, während man in einem vierstündigen Experimentalfilm sitzt. Das eigenartige Sein in innerstädtischen Coffeeshops. Viel Raum für Gedanken, viel Raum für meine Worte aus Rotterdam im nächsten Jahr. Dag!