Erstellt am: 8. 2. 2010 - 17:43 Uhr
Alles über Sally
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Leider widert mich dieses Buch geradezu an. Nicht nur das Buch, sondern auch die Notizen, die ich dazu gemacht habe. Ich hab die Zettel auf dem Küchenboden zusammensammeln müssen. Die Hülle, in der die und andere Zettel gesteckt haben, ekelt mich besonders an. Die hat der Mann von der Spurensicherung eigens bearbeitet.
Irgendwelche unangenehmen Zeitgenossen/Idioten sind in unsere Wohnung eingebrochen. Chaos, Verwüstung, Zerstörung. Unverständnis, Ärger, Zorn. Verunsicherung, Traurigkeit, Verletztheit.
Ein Bruch.
Und damit bin ich dem Inhalt von Arno Geigers neuem Buch viel näher, als mir eigentlich lieb ist.
Einbruch
Unsanft wird das Ehepaar Sally und Alfred aus ihrem Englandurlaub gerissen, sie müssen umgehend in ihr Haus nach Wien zurückkehren - es sei eingebrochen worden.
Ein Einbruch nicht nur in das Haus, sondern auch ein markanter Bruch in der Ehe der beiden, die immerhin schon fast 30 Jahre überdauert hat. Der Sachschaden ist verhältnismäßig gering, der Einbruch in die Intimsphäre allerdings massiv.
Arno Geiger: Alles über Sally. Hanser, München 2010
Während Sally, die lebenshungrige Lehrerin, das Chaos aufräumt, die Zimmer frisch streicht und versucht, diesen Zwischenfall möglichst schnell wieder zu vergessen, kann ihr Mann Alfred gar nicht damit umgehen. Er, der Museumskurator, der sein Leben akribisch genau im Tagebuch festhält, wird dermaßen verängstigt und phlegmatisch, dass Sally in ihrem Eheleben zu ersticken droht.
Hanser Verlag
"Der enorme Aufwand an menschlicher Kraft und Phantasie, der für den Sex betrieben wird, ist immer wieder erstaunlich"
, schreibt Arno Geiger in seinem neuen Buch, als Sally allerlei Gründe anführt, warum ihr Mann sie nicht zum Einkaufen in der Stadt begleiten soll. Und wenn Liebe und Treue in einem unguten Verhältnis stehen und das Verlangen nach dem undefinierbaren Etwas die Oberhand gewinnt, schließen sich eine langjährige Ehe und eine Affäre nicht aus. In diesem Fall mit dem Nachbarn Erik, der noch dazu der beste Freund von Alfred ist.
Arno Geiger versteht es nicht nur ausgezeichnet, diesen Aufwand zu beschreiben und ganz intime Protagonisten zu schaffen, die mit einer unglaublichen Nähe auftreten. Er schafft es auch, das komplexe Konstrukt einer langjährigen Beziehung zu umfassen. Das habe ihn besonders interessiert, erzählt er, "Diese Unterströmungen, die partisanenhaft im Untergrund von Beziehungen wirken - was ist das für ein Begehren? Was sind das für stille Arrangements, was für Ängste, die zwei zusammenhalten über 30 Jahre mit etlichen Turbulenzen."
Umbruch
Arno Geiger war noch vor wenigen Jahren eher ein Geheimtipp im Literaturbetrieb. "Die Kleine Schule des Karussellfahrens", "Irrlichterloh" oder "Schöne Freunde" waren so erfolgreiche Romane, dass Arno Geiger neben dem Schreiben noch bei den Bregenzer Festspielen als Bühnenarbeiter sein Geld verdienen musste.
2005 hat er mit "Es geht uns gut" den deutschen Buchpreis gewonnen und mittlerweile zählt er zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Sally ist 52 Jahre alt - nicht unbedingt das Alter, dem sich die deutschsprachige Literatur vermehrt widmet. Aber gerade diese "Übergangsgeneration" interessiert den Schriftsteller Arno Geiger. Einerseits hätte die noch das konservative Nachkriegsösterreich erlebt, andererseits aber gesellschaftliche Umbrüche in den 1970ern mitgetragen und so würden die Frauen quasi heute bei lebendigem Leib historisch. Eine Generation, die sich sehr viel stärker fragen muss "Wer bin ich?", "In welcher Welt lebe ich?". Das sei historisch neu, "dass jemand mit 50 noch Wahlmöglichkeiten hat - in vielerlei Hinsicht. Berufliche, erotische Wahlmöglichkeiten." Vor 50 Jahren wäre das sicher noch nicht der Fall gewesen. "Effie Briest war mit 30 altes Eisen."
Sally hingegen, oft unruhig getrieben von ihrem Begehren, fackelt nicht lange rum: "Ich begehe meine Dummheiten nicht deshalb, weil ich dumm bin. Also lass uns bitte aufhören zu reden. Ich weiß, dass es kompliziert ist. Ich kann mich in komplizierten Dingen zurechtfinden, andernfalls wäre ich vielleicht keusch. Jetzt wollen wir einfach ficken."
Arno Geiger schreibt weder ein Plädoyer für die Untreue, noch für die Liebe. Am ehesten für die Dauer einer Beziehung.
"Die reine Liebe gibt es eh nicht, die ist kontaminiert von anderen Gefühlen wie Verlustangst, Einsamkeit, Freundschaft und Verantwortungsgefühl." Und bei Untreue sei es in manchen Gegenden ja immer noch so, dass man damit mit dem Leben spielt. Bei uns sei Untreue heute zwar kein Verbrechen mehr, und das müsse jeder für sich entscheiden, "aber es ist nicht so harmlos wie Wassertrinken."
Montag, 8. Februar Buchpremiere
Schauspielhaus Wien, Moderation: Sigrid Löffler
Dienstag, 9. Februar Lesung
Literaturkeller Vöcklabruck
Mittwoch, 10. Februar Lesung
Vorarlberger Landesbibliothek - Kuppelsaal, Bregenz
Beginn: jeweils 20 Uhr
Seine Figuren sollen nicht primär gemocht, sondern verstanden werden, wünscht sich Arno Geiger. Mit all ihren Stärken, mit all ihren Schwächen. Und die ändern sich ebenso wie Ideale und Wervorstellungen. "In Wahrheit stellt sich die Frage nicht in dem Sinn - hab ich die Ideale verraten oder mein Glücksvorstellungen? Sondern es ist die Frage, warum haben sie sich dorthin gewandelt wo sie jetzt sind?"
Seit den 70er Jahren habe sich die Gesellschaft stark verändert, es sei schwer zu sagen, ob die Ideale bürgerlich geworden sind oder die Personen - "In Wahrheit es das Verdienst dieser Generation, dass diverse Dinge konsensfähig geworden sind."
Aufbruch
Nach "Es geht uns gut" sei die Erwartungshaltung natürlich hoch, aber die Erwartung, ein gutes Buch zu schreiben, habe er vor allem selbst. "Das nächste Buch muss immer das Beste sein", meint er überzeugt und hat in diesem Fall sicher recht. In "Alles über Sally" zeichnet Arno Geiger ein großartiges Bild der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit Stärken, aber auch mit Schwächen - bloße Unterhaltung ist das nicht: "Ein Buch muss einen schon auch ein bisschen an der Gurgel packen, sonst würde es sich nicht lohnen zu lesen."