Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Müll mit System"

Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

4. 2. 2010 - 06:00

Müll mit System

Beim Filmfestival von Rotterdam zeigt sich die Zukunft des Kinos

Das Filmfestival in Rotterdam:
Tierische Kriege

Ab und zu, wenn ich hier beim Filmfestival von Rotterdam im hallenartigen Zentrum de Doelen hocke und den vor und hinter mir vorbei ziehenden Strom an Menschen beobachte, sehe ich Angst in den Gesichtern: eine allgemeine Verunsicherung in der Branche, die immer wieder, oft natürlich in den eigenartigsten Momenten, ausbricht und sich zu erkennen gibt. An die esoterisch aufgerüschten Heilsversprechen aus den Katakomben Hollywoods glaubt hier keiner: denkbar dass die Legende um „Avatar“ der ganzen Industrie einen Energieschub und/oder einen Arschtritt verpasst, Lösung für die bevorstehenden Herausforderungen von digitalem Schwund bis Kinosterben kann sie aber nicht sein.

Mann

Rotterdam

Filme wie "La Libertad" wären ohne Initiativen wie den Hubert Bals-Fonds nicht zu finanzieren

Eine Großzahl, ich wage zu behaupten 99,99% der in Rotterdam anwesenden Branchengäste sind kleine Kreativunternehmen, deren oft genug waghalsige Ideen kein kommerziell funktionierendes Unternehmen umsetzen wollen würde. Deshalb sind sie auf Fonds wie den von Hubert Bals in Rotterdam angewiesen, der bereits seit Jahrzehnten Filmprojekte in aller Welt, bevorzugt aber in finanzschwachen Regionen, unterstützt und darüber Regisseuren wie Lisandro Alonso (La Libertad) die Tür zum internationalen Filmzirkus geöffnet hat.

Exotischer Supermarkt

Vor einigen Jahren hat einiges begonnen falsch zu laufen hier in Rotterdam. Wer seitdem regelmäßig in die niederländische Hafenstadt fährt, hat das mehr oder weniger bereits mitbekommen. 2005 läuft Khavn’s The Family that Eats Soil im Programm des Festivals und ist gleichzeitig der erste Ankünder der philippinischen Film-Renaissance: ausgehend vom südostasiatischen Inselstaat ist eine Welle neuer Autoren aus der geografischen Region in die Filmfestivalarena eingezogen. Den meisten ist gemein, dass sie explizit politisch und mit geringsten Mitteln (Digitalkamera, keine Nachbearbeitung) umgesetzt sind: Rotterdam hat diese neue Bewegung im Westen als erste Institution wahrgenommen und gezielt gefördert.

Mann, Toilette

Rotterdam

The Family that Eats Soil von Khavn

Regisseure wie John Torres und Lav Diaz von den Philippinen oder Kim Kyung-mook aus Südkorea haben in den Niederlanden eine zweite Heimstätte gefunden, wo sie Freunde treffen und Kontakte knüpfen können. Aber wie viele grundsätzlich gute und vernünftige Systeme tendiert mittlerweile auch diese Fördergesinnung Rotterdams dazu, sich selbst für überflüssig oder untauglich zu erklären. Dass das Festival und sein Hubert Bals-Fonds gewagte Projekte fördern, die in den jeweiligen Heimatländern ohne diese Hilfe nicht umsetzbar wären, hat zu einem eigenartigen und nicht selten geschmacklosen Nischenmarkt geführt, in dem mittlerweile Dutzende junger Regisseure um die Aufmerksamkeit und damit das Geld des Festivals buhlen. Eingeschlossen darin ist der alte Mythos vom generösen, vergoldeten Westen, der wie ein global agierender Kunst-Mäzen die Menschen aus entwicklungsschwächeren Regionen anlockt und umarmt, nicht selten dann das beeinflusst, was eigentlich der autonome Ausdruck eines Künstlers sein sollte.

Der goldene Westen

In Reincarnate des Thailänders Thunska Pansittivorakul, der beim IFFR 2010 zu sehen ist, kann man diese Pervertierung des Systems gut veranschaulichen: der homosexuelle Regisseur stellt darin die strikte Filmzensur des Landes an den Pranger, die unter anderem sexuelle Handlungen und Kritik am Königshaus verbietet. Der politische Aufhänger hätte zu einem feinen Kurzfilm gereicht: Pansittivorakul aber dehnt "Reincarnate" (dessen Abspann gar nicht mal so dezent auf die Mitwirkung von Apichatpong Weerasethakul verweist; damit einen Namen ins Spiel bringt, der in der Artfilm-Industrie mit Gold aufgewogen wird) auf knappe Langfilmlänge (etwas über 70 Minuten) aus, nicht etwa weil sein Stoff oder seine Inszenierung das hergeben würden, sondern allein aus dem Grund der Sichtbarkeit hier am Rotterdamer Filmmarkt. Es entsteht damit ein dubioser Klüngel aus geförderten Regisseuren, die vor allem deshalb Geld für ihre Projekte bekommen, da sie den vorgeblich aufgeklärten Westmenschen darin vorführen, wie viel schlechter die Lage in Nicht-Westländern ist. Gefördert wird, was immer gefördert wird; oder was explizit und provokant genug ist, im exotischen Supermarkt Rotterdam dann auch gekauft zu werden. Das Schlimme daran: aufgrund der blinden Flecken in diesem Fördersystem werden kontinuierlich Regisseure übergangen, die wirklich etwas zu sagen hätten.

Neue Visionen oder: wie jeder Filmproduzent werden kann

Aber aus Fehlern kann man lernen; und wenn das Filmfestival Rotterdam etwas beherrscht, dann ist das die kontinuierliche Weiterentwicklung, kombiniert mit einem Hang zum Experiment. Cinema Reloaded nennt sich ein Versuchsballon, der bei der diesjährigen Festivalausgabe zum ersten Mal gestartet wird. Drei Regisseure, der gebürtige Argentinier Alexis dos Santos (Glue, Unmade Beds), die Schweizerin Pipilotti Rist (Pepperminta) und der Malaye Ho Yuhang stellen auf der Seite jeweils ein neues Projekt vor, das dann wiederum von Privatpersonen unterstützt werden kann: wer finanziert, wird demnach zum Ko-Produzenten, steht in kontinuierlichem Kontakt mit dem Filmemacher, kann Vorschläge einbringen und den künstlerischen Entstehungsprozess beeinflussen und mitformen. Es ist weltweit eines der ersten Male, dass die demokratischen Mitbestimmungsprinzipien des Internet der Version 2.0 in die Wirklichkeit einer tatsächlich exisitierenden Filmproduktion gerissen werden. Freilich ist es immer noch möglich, dass die Projekte scheitern; aber es ist, wie gesagt, als Experiment gedacht, auch als ein Nachdenken hier am Festival über eine mögliche Zukunft des Mediums.

Neue Visionen oder: the Return of the Analogue

Und im Moment ist sich keiner sicher, wo die liegen wird. "I don't know. Maybe in a few years time 10 minute-long films will be seen as feature films", sagt mir der US-Regisseur Harmony Korine im Interview. "Ein Soldat des Kinos", nennt ihn der deutsche Filmemacher der ekstatischen Wahrheit, Werner Herzog, weil Korine keine Sicherheitsleinen anbringt, beim Dreh zu seiner nie realisierten Autodestruktions-Dokumentation "Fight Harm" sogar krankenhausreif geprügelt worden ist. Mitte der Neunziger Jahre wird Harmony Korine als Drehbuchautor des Skandalfilms "Kids" (der lose auf seinem eigenen Aufwachsen in New York City basiert) schlagartig berühmt, empfiehlt sich mit "Gummo" und "Julien Donkey-boy" als außergewöhnliche neue Stimme des US-Independent-Kinos (das es mittlerweile eh schon nimmer gibt), bevor er nach bewältigter Drogensucht mit seinem bisher teuersten Projekt "Mister Lonely" eine (vollkommen unverdiente) kritische und kommerzielle Bauchlandung hinlegt.

Trash Humpers (wörtlich übersetzt: Müll-Ficker) heißt sein neuer Film, der mit der üblichen Definition eines fiktiven Langfilms (Exposition, Spannungsbogen, Klimax) nichts mehr zu tun haben will. Wie schon bei seinen anderen Projekten sammelt Korine Ideen auf Zetteln: er erinnert sich an seine Kindheit, in der er sich vor drei Obdachlosen in seiner Nachbarschaft gefürchtet hat, die sich, eingewickelt in Müllsäcke, an Fenster gestellt und Leute ausgespechtelt haben. Er erinnert sich auch die Ästhetik des VHS (Korine gehört zur ersten Generation, die mit Videokassetten aufwächst, die dem Film gegenüber eine neue Macht verspürt, weil man ihn nach Laune vor- und zurückspulen und sogar anhalten kann), an die vernebelte Unschärfe, die Schlieren und Artefakte, das Surren im Hintergrund.

Mann, Puppe

www.reverseshot.com

Trash Humpers

"Trash Humpers" ist ein Horrorfilm: vielleicht nicht thematisch, aber jedenfalls emotional. Zu sehen ist eine Gruppe von sozialen Außenseitern, Anarchisten, Außerirdischen möglicherweise: eigenartige Masken verbergen ihre Gesichter, lassen sie wie alte Menschen aussehen, machen sie aber gleichzeitig merkwürdig ausdruckslos. In schäbigen Hinterhöfen und abgelegenen Straßen, auf leeren Parkplätzen und nassen Wiesen, bumsen sie Mülleimer, lutschen an Baumästen, zerschlagen Fernsehgeräte, Stepptanzen dem Wahnsinn entgegen, werfen Silvesterkracher um sich, schlagen mit Hämmern auf Plastikpuppenköpfe ein. Die "Trash Humpers" stehen für eine utopische und ultimativ freie Gesellschaft, die anstatt Leistungen zu produzieren und dem Strom der Produktivität zu folgen, Dinge kaputtschlagen. "Destruction as a creative act", nennt es der Regisseur selbst.

Trash Humpers

Rotterdam

Wer darin nur eine kindische Provokation sieht, irrt sich: Korine arbeitet mit der Naivität und Unbekümmertheit eines Kindes, will damit auch die Miley Cyrus-Zielgruppe beeindrucken, ihnen einen alternativen Weg aufzeigen. "Trash Humpers" ist verstörend, wild, anarchisch, zärtlich und liebevoll. Gedreht hat ihn der Regisseur auf VHS, geschnitten auf zwei VHS-Rekordern: die Kinoversion ist ein Blow-Up, die Konturen verschwommen, der Ton dumpf und rauschig. Korine weiß selbst nicht wirklich, was er damit soll, ist sich aber im Klaren darüber, dass "Trash Humpers" keine übliche Kinoauswertung erfahren wird können. Vielleicht stellt er ihn gratis ins Netz, vielleicht verteilt er DVDs des Films an verschiedenen Orten in Amerika. Ich persönlich werde jedenfalls alles daran setzen, ihn nach Österreich zu bringen.