Erstellt am: 1. 2. 2010 - 18:15 Uhr
In der Ruhe liegt die Kraft
"Life is an open road to me" singt der Kanadier Bryan Adams und platziert seine romantische Vorstellung auf dem US-amerikanischen Mythos von gesellschaftlicher Unabhängigkeit, den man nicht erst seit Jack Kerouac kennt. Dass sich allerdings ein solches Versprechen von Freiheit trotz des Wegwerfens der Armbanduhren nicht einlösen kann, zeigt Kelly Reichardt in ihren kleinen, fast schon unauffälligen Filmen. Bei ihr wird deutlich, dass der Mythos so oberflächlich wie ein Popsong sein kann.
Die Entblätterung des Mythos
Glass Eye
"You can’t get an address without an address. You can’t get a job without a job" ist eine der Kernaussagen in Reichardts drittem Spielfilm "Wendy and Lucy". Eigentlich ist die mittellose Mittdreißigerin Wendy mit ihrer Hündin Lucy auf dem Weg nach Alaska, um dort in einer Fischkonservenfabrik zu arbeiten. Auf der langen Reise durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten geht aber einiges schief: Das Auto macht schlapp, Lucy ist auf einmal spurlos verschwunden und Wendy wird beim Ladendiebstahl ertappt. Wer nun auf gesellschaftliche Solidarität und ein rettendes soziales Netz hofft, wird enttäuscht. In "Wendy and Lucy" zeigt Reichardt auf, wie schnell es im gegenwärtigen Amerika gehen kann, dass die Kontinuität eines Arbeitslebens abhanden kommt. Es wird das Bild eines Menschen gezeichnet, der den Anschluss an die Gesellschaft verloren hat und von dieser auch nicht mehr gewollt wird.
Kelly Reichardt zeigt die Verwundbarkeit einer Figur, deren Hoffnung auf einem längst veralteten Mythos rekurriert scheint. Wendy, übrigens dank ihres nach innen gekehrten Gestus herrlich von Michelle Williams in Szene gesetzt, ist kein freiheitsliebender Hobo mehr, der in Güterzügen das Land durchquert. Als Antwort auf das Missmanagement nach "Katrina" zeigt Reichardt Wendy als junge Obdachlose, die in ihrer beherrschten Selbstversunkenheit ihre Handlungen lediglich pragmatisch setzt und ums Überleben kämpft. Der Aufschrei ist dabei sehr still, Reichardt erzählt gesellschaftliche Abgründe ohne Wut und viel Spektakel, sondern mit viel Gefühl.
Das Filmmuseum zeigt vom 29.1. bis 5.2. in einer Retrospektive das bisherige Gesamtwerk von Kelly Reichardt. Dazu zählen nicht nur ihre drei Spielfilme, sondern auch ihre Kurzfilme.
Als Einstimmung sei dieses Interview zu empfehlen, das Regiekollege Gus Van Sant mit ihr geführt hat.
Simon Max Hill
Bereits in ihrem ersten Spielfilm "Rivers Of Grass" beschrieb Kelly Reichardt die Desillusionierung eines Mythos: Damals schickte sie in ihrem Anti-Roadmovie ein kriminelles Pärchen in ein Hotel, nur um damit dem "Bonny and Clyde"-Märchen um den Ausbruch aus der bürgerlichen Gesellschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die 45-jährige Regisseurin arbeitete schon damals eng mit dem Autor Jesse Hartman zusammen, ein Prozedere, das sie bei ihren Folgefilmen "Old Joy" und "Wendy and Lucy" mit Jonathan Raymond wiederholte und auch bei ihren Kurzfilmen wie "Ode" (basierend auf Herman Rauchers "Ode to Billie Joe") berücksichtigte. Zu Reichardts erweitertem Team gehörten schon damals Produzent und Regiekollege Todd Haynes, aber auch Will Oldham alias Bonnie "Prince" Billy und Yo La Tengo, die dem Schaffen der Regisseurin aus Portland häufig die stille, akustische Untermalung schenkten.
Die Verwundbarkeit der Intimität
Glass Eye
Apropos Will Oldham: Der übernahm in "Old Joy" gleich selbst eine Rolle. Der Film handelt von Mark (Daniel London) und Kurt (Oldham), zwei Freunde, die sich zu einer heißen Quelle im Wald aufmachen. Für Mark ist es der Ausbruch aus der Realität einer kurz bevorstehenden Vaterschaft, angestachelt von seinem Freund Kurt, der ziellos in den Tag zu leben scheint. Die Reise verläuft unspektakulär, Gespräche drehen sich um das Verlorene in der Vergangenheit: Seien es der längst aufgelöste Plattenladen um die Ecke oder die vergebenen Chancen der letzten Jahre. Die Schlüsselszene im Wald, als Kurt Mark im heißen Bad eine wohltuende Massage gibt, kann auch das nicht einlösen, was schon Kurts traurige Blicke versprachen, als Mark mit seiner auf ihn daheim wartenden Frau telefoniert. Mehr soll nicht gesagt werden.
Mehr zur Kelly Reichardt-Retrospektive heute in der FM4 Homebase (19-22h).
Reichardts Filme sind berührende Vertreter des US-amerikanischen Independentkinos, weil sie ihre Aussage zwischen den Zeilen verstecken. Seit "Old Joy" ist Reichardt eine einfühlsame Beobachterin, die ihre Geschichten so unspektakulär wie gewaltig erzählt. Das tut sie auch in Kurzfilmen wie "Travis", in dem verschwommene Bilder gezeigt werden, während auf der Tonebene eine Mutter Fragmente über ihren Sohn im Irak wiederholt. Die rauhe Schönheit, welche diese Figuren ausmacht, ist einem häufig erschreckend näher, als man anfangs geglaubt hätte.