Erstellt am: 30. 1. 2010 - 20:47 Uhr
Tierische Kriege
Ah, eine Oase; der Rauch hängt in der Luft wie gespenstische Dunstwolken, die abgewetzten, abgesessenen und aufgeplatzten Echtledersessel schauen sich an wie aus einer anderen Ära, durch den Raum schwirren Songs von den Eurythmics und Bruce Springsteen. Mitsingen, mitlachen, mitmachen. Ah, die Bar Central, fünfzig Quadratmeter reiner Glücksfläche, wo sich jeden Tag nach Mitternacht diejenigen treffen, die immer noch nicht genug haben, die überhaupt nie genug haben können, die dem Festivalrausch von Rotterdam schon längst erlegen sind. Ich bin jeden Abend dort: vor allem, da ich ungern bei Minusgraden und horizontal auf mich einprasselndem Schnürlregen rauche; aber auch, da man dort immer mitten im Exzess sitzt, aber nicht zwingend daran teilhaben muss. Spielverderber, ich weiß.
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Mir gegenüber eine Legende der niederländichen Filmkritik von uneinschätzbarem Alter; sein weißes Haar ist stellenweise gelblich verfärbt, der schicke Anzug kontrastiert sein lautes, aber freundliches Verhalten; er tanzt in der Kulturindustrie, kippt ein, zwei, fünf doppelte Whiskeygläser hinunter. Ich nippe am schrecklichen Hauswein, sauge an meiner Zigarette, der Hals ist rauh. Neben der Legende hängen die kinnlangen Haare eines argentinischen Regisseurs widerspenstig in der Luft; er selbst besoffen wie Juhnke, einen Flachmann mit Hochprozentigem herum reichend. Einen Platz weiter: der ehemalige Programmverantwortliche eines renommierten nordamerikanischen Festivals. Wahnsinn, so leer das alles. Oh, ich habe Spaß mit meinen zerbröckelnden Illusionen von den asketischen Filmemachern, die sich vollends der Kunst verschrieben haben, die keinen Hedonismus kennen, keine Runden schmeißen, sondern immerzu am nächsten Werk arbeiten.
Rotterdam, für zehn Tage im Winter: ein Karussell der jungen Wilden und wilderen Alten, der Selbstdarsteller und Selbstgenügsamen, der Schweigenden und der Schreienden. Kino wie es leibt und bebt, in all seiner Pracht und Wonne, mit all seinen Lügen und Widersprüchen ungefähr so schwer auszuhalten wie das Leben selbst – und dann doch wieder so geil, überraschend, unberechenbar, dass es einem Energie gibt für die Umrundung der Erdkugel. Theoretisch. Ich wohne in Delfshaven, einem Stadtteil, der im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen nicht in alle vier Windrichtungen zerbombt worden ist, wo die Häuser noch den Anstrich und das Ansehen von früher haben. Mit der Straßenbahn fährt man von der Vierambachtstraat zur Kruisplein, vorbei an unzähligen Metzgern, Haarverlängerungs- und Nagelstudios, vorbei auch an dem Coffeeshop mit dem schönen Namen „Bellamy“, hinein ins Vergnügen, hinein in den Krieg.
Der Krieg kehrt heim
After Victory, nach dem Sieg, heißt ein Spezialprogramm hier beim Rotterdamer Filmfestival, das die mannigfaltigen Abbildungen von Krieg im Kino versammeln und zur Diskussion stellen will. Darunter etwa auch René Vautiers kurze Dokumentation Algérie en flammes (1958): der französische Regisseur, der mit seinen politischen Meinungen nie hinterm Berg gehalten hat, der für diesen Film eine Gefängnisstrafe abzusitzen hatte, begleitet darin eine Truppe algerische Widerstandskämpfer, die sich gegen die französischen Kolonialherren verteidigen. Mit schwerem Apparat und minimaler Crew lebt, schnauft, zittert Vautier in einem fremden Land, das ihm doch so nahe ist: der Off-Kommentator übermalt die beeindruckenden Bilder mit Heroismus-Phrasen, wenig später werden der Kameramann und sein Assistent angeschossen und müssen im Not-Lazarett versorgt werden. In wenigen Filmen ist das Sein im Krieg so fühlbar gemacht wie hier.
Der Titel der Schau „After Victory“ gewinnt fast eine zynische Schlagseite, wenn man ihn über einen Film wie Bob Clarkes Dead of Night (aka Deathdream) (1972) stellt: nach dem Sieg meint in diesem Fall nach der Heimkehr des jungen Soldaten Andy aus dem vietnamesischen Fegefeuer. Seine Familie, in einem kleinen Häuschen lebend, wartend, hoffend, essend, erhält zuerst das Todes-Telegramm, dann steht der Bub nicht vor der Tür, sondern schon im Haus. Wie ein Geist, der er auch ist. Ein wiedererweckter Toter, ein Zombie, der wie ein lebendes Mahnmal, eine bleiche Warnung vor dem Krieg, vielleicht auch eine Rückzahlung für angerichtete Schäden die die Kleinstadtsiedlung seiner Familie aussaugt: zuerst stirbt der Hund, dann der Arzt, der bei Andy keinen Puls erfühlen konnte, dann seine Freundin, die er in einem Autokino auf dem Rücksitz aussaugt und auffrisst.
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Der Krieg ist im zu Hause angekommen, mehr als sechs Jahre bevor sich in Halloween (The Night HE came home) das Abgedrängte und Weggschnittene in einen Über-Psychopathen mit Käptn Kirk-Maske gießt. Wie einflussreich Bob Clark – überhaupt ein Zentralregisseur, der mit Black Christmas (1974) einen formidablen Slasher und mit dem umnebelten Düster-Thriller Murder by Decree (1976) jenen Sherlock Holmes-Film gedreht hat, von dem das Würschtl Guy Ritchie nicht einmal träumen kann – mit diesem Film geworden ist, zeigt nicht zuletzt Joe Dantes freche Horror-Miniatur Homecoming aus der ersten „Masters of Horror“-Staffel: darin rächen sich Zombie-Soldaten an denen, die sie dort hin geschickt haben. „I have died for you. Why should you not die for me?“ fragt Andy eines seiner Opfer. Zu Recht.
Rotterdam hat immer ein Überangebot, tischt immer zu viel von allem auf. Zu der hervorragend programmierten Reihe „After Victory“ kommt in diesem Jahr auch noch ein Spezialprogramm namens Back to the Future?, das sich an der Dialektik zwischen Kino und Technologien abarbeitet und eine Reihe von besonderen Vorführungen inkludiert: zu sehen ist etwa Alfred Hitchcocks Dial M for Murder in seiner selten gezeigten 3D-Version. Für Roger Cormans Poe-Campfest The Raven, brillant besetzt mit Peter Lorre, Vincent Price und Boris Karloff hat man sogar ein Drive In-Kino aufgebaut.
Fuchs, du hast mein Herz gestohlen
Aber auch viele aktuelle Produktionen werden in den kommenden Tagen hier ihre europäischen, oder jedenfalls niederländischen Premieren erleben: darunter Wes Andersons Animationsfilm Fantastic Mr. Fox. In den Filmen des Amerikaners fühle ich mich immer wie ein erwachsenes Kind: die Räume, Häuser und Orte in The Royal Tenenbaums oder The Life Aquatic with Steve Zissou wirken als aufklappbare Bücher, die seit Jahrzehnten in der kollektiven Erinnerung verstaubt sind und von Herrn Anderson immer wieder aufs Neue geöffnet werden. Das Tenenbaum-Haus mit seinen pastellfarbenen Wänden, die mindestens so viel erzählerisches Gewicht haben wie die Figuren, allesamt gebaut aus popkulturellem Material; oder auch das Boot des Herrn Zissou, durch dessen verschiedene Ebenen (die äußeren wie die inneren) der Regisseur gleitet, segelt wie durch eine Theaterbühne.
Das Gebaute, Künstliche ist bei Anderson immer auch als solches ersichtlich; die Unschuld eines Kindes paart sich mit dem scharfen Verstand eines Erwachsenen und erzeugt ein unheimliches Kino, warm und eiskalt, zynisch und naiv gleichzeitig. Insofern passt sein Kino sehr gut zum literarischen Schaffen des britischen Schriftstellers Roald Dahl: dessen Erzählungen mit ihren bunten, leicht erkennbaren Charakteren kreisen um universelle Geschichten, sind Fabeln in ihrem eigentlichen Sinn, handeln vom armen Jungen Charlie und seiner Reise in die gespenstische Schokoladenfabrik; oder eben auch vom fantastischen Mr. Foxy Fox und seiner Frau Felicity: mit ihrem Sohn leben sie in einem Fuchsbau, der den Eigenheimwundern der Fünfziger und Sechziger-Jahre nachempfunden ist; komplett mit surrendem Kühlschrank, gemütlichem Couch-Sofa und Fernseher.
Fox
Aber wie immer bei Dahl, wie immer bei Anderson schlummert unter der Fassade etwas Wildes, Unberechenbares, Tierisches und daher auch Menschliches. Herr Fox, im Privatleben Zeitungskolumnist, schleicht sich des Nächtens mit seinem Freund Oppossum aus dem trauten Heim, um von drei Bauernhöfen Tiere zu stehlen, um seine unter dem Pastell-Ballast und der Normalität verschütt gegangenen Triebe zu befriedigen. Als die Farmer den Verlust bemerken, rüsten sie auf und rücken den Tieren zu Leibe.
Rotterdam
Wes Anderson animiert „Fantastic Mr. Fox“ altmodisch wie ein belebtes Bilderbuch: es entsteht ein Figurentrickfilm mit diversen Doppelböden; die anfänglich reißbretthaften Figuren offenbaren ihr jeweiliges Eigenleben und wachsen über ihr verschriebenes Kinderpublikum hinaus. Anderson inszeniert wie bei seinen Spielfilmen (die in gewisser Weise auch Animationsfilme sind in all ihrer Gebautheit), montiert Pop-Songs zu seinen Sequenzen und setzt auf Flächigkeit, wenn er seine Figuren immer wieder durch zweidimensionale Landschaften laufen lässt. „Fantastic Mr. Fox“, eingesprochen unter anderem von George Clooney, Meryl Streep, Willem Dafoe (die Ratte!) und – natürlich – Bill Murray ist ein früher Höhepunkt des Kinojahres; und für Anderson nach dem enttäuschend zerfahrenen „The Darjeeling Limited“ eine Rückkehr zur Hochform.