Erstellt am: 7. 2. 2010 - 15:22 Uhr
Reservoir Dogs
Gemeinsam haben sie einen Mund vollständiger Zahnreihen: Herr Sport, Herr Arabisch, Herr Philosophie und Herr Kochen; hier benannt nach den Fächern, die sie unterrichten. Es ist kurz nach Mitternacht im spartanisch eingerichteten Wohnzimmer der Junggesellen-WG der Herren Arabisch und Philosophie. Ersterer ist Freizeit-Poet, letzterer ein passionierter Marxist, der fünf Jahre lang ein marokkanisches Gefängnis von innen betrachtet hat.
Anna Mayumi Kerber
Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) wurde am 27. Februar 1976 nach dem Abzug Spaniens ausgerufen.
Die Hauptstadt wäre El Aaiún, das aber unter marokkanischer Kontrolle steht, deshalb ist es provisorisch Bir Lehlu.
Der offizielle Status ist ungeklärt, DARS steht unter Verwaltung der Vereinten Nationen; unter marokkanischer Kontrolle und von 53 Staaten anerkannt.
Die Wohnung liegt in einer dunklen Seitenstraße von El Aaiún, der Hauptstadt der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS). Ein Staat, den es nicht wirklich gibt, weil als solcher nur bedingt (von 53 Staaten) anerkannt. Für uns Europäer ist es das "umstrittene Westsaharagebiet", das unter marokkanischer Verwaltung steht. Für die Vereinten Nationen ein lästiges Dauerthema.
Für den Durchreisenden ist dieser Konflikt nicht von weiterer Bedeutung. Die Landesgrenze im Süden markiert ein marokkanischer Zollposten, alles wie gehabt. Nur die verschärften Polizeikontrollen, die sich mehren je weiter man nach Süden fährt, weisen auf Unregelmäßigkeiten hin.
Herr Sport füllt kleine Teegläser mit Rotwein, die reihum gehen und in einem Zug geleert werden. Mit einem Kaffeetisch, einem abgewetzten blau-gelben Sofa und ein paar Hockern ist der Raum fast voll. Der Haschischrauch vermischt sich mit dem Geruch von Sardinen. Auf dem Tisch stehen die Reste einer Tagine, einem marokkanischen Eintopfgericht, in diesem Fall aus Sardinen, Kartoffeln und Oliven zubereitet.
Anna Mayumi Kerber
Die anwesenden Herren sind allesamt Lehrer an der technischen Hochschule in El Aaiún und diskutieren gerne. Miteinander, mit anderen oder einfach nur so vor sich hin. Und das, finden sie, geht besser mit einer Flasche Rotwein.
Frente Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro; dt: Volksfront zur Befreiung von Saguia el Hamra und Río de Oro): politische und militärische Organisation; gegründet 1973
Der Wein hat die Zungen gelockert, man frönt den alten Zeiten. In den 70ern, so verkünden die vier stolz, hätten sie sich offen zum Marxismus bekannt und geholfen, die sozialistische Polisario zu etablieren. Die Frente Polisario ist eine politische Organisation, die den bewaffneten Befreiungskampf der Westsahara anführt. Mit ihrer Gründung 1973 begann der bewaffnete Unabhängigkeitskampf gegen die damals vorherrschende Kolonialmacht Spanien. Dem Rückzug Spaniens folgte die unmittelbare Annektierung des Gebiets durch Marokko (zwei Drittel im Norden) und Mauretanien (südliches Drittel). Der Grund: Die Phosphatvorkommen unter der öden Wüstenlandschaft in dem Gebiet, das rund 266.000 Quadratkilometer umfasst.
Anna Mayumi Kerber
Die Vereinten Nationen drängten die Besetzerstaaten zu einem Referendum über das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis. Mauretanien verzichtete 1979 auf seine Ansprüche, woraufhin auch das südliche Gebiet von Marokko eingenommen wurde. Die von Algerien unterstützte Polisario nahm den bewaffneten Kampf auf. Erst 1991 gelang es den Vereinten Nationen einen Waffenstillstand zu vermitteln.
Die Regierung errichtete einen Wall, sechzig Mal so lang wie die Berliner Mauer, um das Gebiet abzuriegeln. Sie wurde dreimal auf eine Länge von insgesamt 2.500 Kilometer erweitert, je weiter die sahrauischen Befreiungskämpfer zurückgedrängt wurden.
Die Frente Polisario vertritt die Sahrauis, die vielfach seit dreißig Jahren in Flüchtlingslagern in Algerien leben, nachdem sie 1979 von den Marokkanern vertrieben wurden. Viele sind dort geboren und haben das Gebiet der Westsahara noch nie betreten. Jene Saharauis, die geblieben sind, berichten von Schikanen durch die marokkanische Exekutive.
An jeder Straßenecke von gibt es Patrouillen, strikte Personenkontrollen bei den Zufahrtsstraßen zur Stadt. Der Hauptverkehrsweg weitet sich bei der Einfahrt auf vier Spuren aus, Sanddünen drohen ihn zu verschlucken. Die Ausfahrt im Süden verläuft nach einigen Kilometern wieder zu einer schmalen, dennoch geteerten Straße durch hunderte von Kilometern Einöde.
Anna Mayumi Kerber
Vor den besseren Hotels der Stadt reihen sich die weißen Geländewagen, mit großen schwarzen aufgeklebten "U"s und "N"s. Die 231 Soldaten der MINURSO (UNO-Mission für die Organisation eines Referendums in der Westsahara) sollen den Waffenstillstand sichern. Das war der erste Schritt des 1991 von der UNO verabschiedete Friedensplans. Das anschließende Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara wurde allerdings nie durchgeführt, weil keine Einigung darüber erzielt werden konnte, wer ein Stimmrecht hat.
Die Mitglieder der Lehrerrunde haben sich allerdings nicht für eine autonome Westsahara eingesetzt. Sie wollten ganz Marokko befreien, von den Fesseln der Klassengesellschaft des Königsreichs. Sie hofften auf eine Revolution gleichsam der, die der sozialistischen Front de Libération Nationale (FLN) im benachbarten Algerien gelungen war. Sie hatten ein großes Marokko angestrebt. Eines, das auch die Westsahara und westliche Teile Algeriens umfasst - Marokko, das große Morgenland. Von 1987 bis 92 saß Herr Philosophie wegen seiner politischen Ideale hinter Gittern. Die illegalen Aktivitäten der anwesenden Runde sehen in diesen Tagen anders aus und manifestieren sich in Aktionen wie jene, die gerade erst ein paar Stunden zurückliegt:
Vor dem Hotel Al Massada, dessen Bar die einzige (Alkohol ausschenkende) in der 500.000-Einwohner-Stadt ist, stiegen Herr Sport, Herr Kochen und Herr Französisch ins Auto und fuhren durch die Stadt. Von einem Ende zum anderen und in einer gefühlten Spirale wieder zurück. Herr Kochen und Herr Sport telefonierten gelegentlich, dann wurde kurz beraten, die Richtung geändert, erneut aufs Gas gestiegen. Es ging durch dunkle Gassen, von Müll gesäumt, von der Nacht verschlungen. Und dann war plötzlich Halt. Alle stiegen aus, rauchten, pissten gegen eine Wand, warteten. Schließlich bog ein zweites Auto um die Ecke, parkte vor ihrem Fahrzeug.
Dann ging es schnell: Der Fahrer öffnete den Kofferraum, in dem zahlreiche Flaschen lagen. Er flüsterte mit Herrn Sport, der schließlich drei Flaschen entgegennahm und im Gegenzug ein paar Hunderterscheine (100 marokkanische Dirham entsprechen etwa neun Euro) übergab. Man schüttelte sich die Hände, trat Zigaretten auf dem Boden aus und stieg zurück ins Auto. Anschließend ging es zur Bude der beiden Junggesellen Arabisch und Philosophie, wo sich die Runde nun vergnügt.
Keiner der Männer wurde in El Aaiún geboren. Sie alle kommen aus dem Norden, aus Rabat und aus Féz. Sie haben die Plätze der vertriebenen Sahrauis eingenommen, von sich aus, wie sie sagen. Viele ihrer Landleute kamen allerdings nicht von ungefähr: Mit Arbeitsplätzen und Subventionen lockt/e sie die marokkanische Regierung in die Gebiete der Westsahara, um eine Mehrheit gegenüber der dort ansässigen Bevölkerung zu erzielen - sollte es denn irgendwann zu einem Referendum kommen.
Anna Mayumi Kerber
Herr Sport putzt die kleinen Teegläser mit etwas Toilettenpapier aus und schenkt Wein nach. Nun meldet sich auch Herr Arabisch zu Wort. Er trägt seine letzten Gedichte mit zitternder Hand und weicher Stimme vor. Herr Französisch löst ihn mit einem Ständchen ab. Herr Kochen scherzt am Telefon mit seiner Frau. Es ist inzwischen weit nach Mitternacht. In wenigen Stunden schon müssen sie wieder unterrichten. Ihre Ideale sind verblasst. Die Erinnerung verklärt. Für was sie heute stehen wissen sie selbst nicht so genau. Der Job hält sie in El Aaiún. Und an diesem isolierten Ort sind die wortreichen Abendrunden für sie wertvoller, als alle Bodenschätze des Wüstenreservoirs.