Erstellt am: 28. 1. 2010 - 19:10 Uhr
Kanadisches Popheiligtum
Es ist ein räudiges Sample, mit dem die Zwillinge Tegan & Sara ihr mittlerweile sechstes Studioalbum eröffnen. Ein zerhacktes, verzerrtes Gitarrenriff, aufgefettet durch eine hohe Synthiebassmelodie, unter die sich ein versetzter Schlagzeugtakt legt. Alles scheint sich ein Stück zu verschieben, bis die beiden kraftvollen Stimmen von Tegan und Sara uns Orientierung bieten. Geradlinig schießt das kanadische Duo den Opener "Arrow", den Pfeil der Liebe, in unsere Richtung ab. In dem Wissen, dass er treffen, aber nicht nur entzücken, sondern uns auch bluten lassen wird.
Das Rezept mag noch das gleiche sein, poppige Songs mit elektronischen Elementen unterfüttert, von charmanten Musikerinnen vorgetragen und überzeugend live dargeboten. Aber die Zutaten und Gewürze sind definitiv von höherer Qualität. Sowohl auf musikalischer, als auch auf inhaltlicher Geschmacksebene. Die Kombinationen und Gewichtungen der Ingredienzien haben sich mit dem Alter und der Erfahrung geändert. Ausgewogener und selbstsicherer ist der Menüplan, den die beiden mit sehr persönlichen Vorlieben zusammengestellt haben.

Pamela Littky
Das Heiligtum der Eltern
Als Tegan und Sara anfingen, in der Schule ihre Musikalität unter dem Namen "Plunk" auszuleben, haben ihre Eltern sie in einen Bandwettbewerb eingeschrieben. Als Sara and Tegan. Insofern sind sie nicht nur für den heutigen Bandnamen verantwortlich, sondern auch für die steile Karriere ihrer beiden Töchter. Und das, obwohl sie um ihre Kinder bangten, als nach dem Schulabschluss keine Ambition auf eine Hochschulkarriere zu spüren war.
Tegan: "Unsere Eltern waren nervös, als wir nach der Schule nicht studieren wollten. Sie dachten wohl, dass es sehr schwer werden würde, nach einem Leben als Musikerin zu einer schulischen Ausbildung zurückzukehren. Ich dachte genau anders herum. Nütze die Jugendjahre um hinauszugehen und die Welt zu erobern. Oder was auch immer man tun will in jungen Jahren, um nicht in die Schule zu gehen. Für mich und Sara war es immer schon das Musik machen und damit die Welt zu entdecken. Außerdem kamen wir aus der unteren Mittelschicht und unsere Eltern hatten nie genug Geld, um uns Reisen zu zahlen. Ich denke sie sind jetzt besonders froh und aufgeregt, dass wir Erfolg haben, oft nach Europa fahren können und dort Konzerte ausverkaufen."
Der Bezug zu den eigenen Eltern und das Hineinversetzen in deren damalige Situation hat das neue Album "Sainthood" wesentlich beeinflusst. Immerhin sind Tegan und Sara heute genauso alt wie ihre Eltern waren, als sie sich scheiden ließen. Es war für die beiden Zwillingsschwestern - damals gerade mal sieben Jahre alt - ihr erster, großer Beziehungsverlust. Ein prägendes Ereignis, wie Tegan meint, das auch in ihren Geschichten über Liebe zwischen Hingabe und Selbsttäuschung reflektiert wird. Gleichzeitig genießt das quirlige Duo ihr heutiges Leben als Musikerinnen, denn in die Lage der Eltern versetzt, hätten sie genau jetzt - mit neunundzwanzig Jahren - zwei siebenjährige Töchter zu erziehen.
Tegan: "Es ist eine wichtige Phase meines Lebens, in der ich mich befinde. Ich bin so beschäftigt mit meinen Beziehungen und meinen Problemen, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie es meine Eltern geschafft haben, in diesem Alter neben all ihren Schwierigkeiten uns großzuziehen. "
"Sainthood" scheint deshalb auch eine Hommage an das Aufopfern und eine große Verbeugung vor der Stärke der Liebe zu sein, die Menschen dazu befähigen, ihre eigenen Interessen und Leidenschaften oftmals den der Geliebten unterzuordnen.

Pamela Littky
Erfolgparadoxon Unsicherheit
Fragt man Tegan danach, ob sie sich jemals vorgestellt hat, berühmt zu werden und ob sie ihr Erfolg überrascht hat, entgegnet die Kanadierin mit einem interessanten Konzept, das eine endgültige Antwort auf solche Fragen zu geben scheint.
Tegan: "Ich glaube es waren U2, die gemeint haben, sie fühlen sich noch immer wie Außenseiter, obwohl sie damals schon weltbekannt waren. Es scheint so, als wäre das der gemeinsame Nenner alle Künstler und speziell aller Musiker. Niemand der künstlerisch tätig ist sagt, oh ich werde extrem erfolgreich und berühmt werden. Offensichtlich brauchen wir diesen Grad von Unsicherheit, um Musik machen zu können."

Lindsey Byrnes
Paradoxer Weise sind Tegan & Sara auf "Sainthood" selbstbewusster denn je, was sich auf mehreren Ebenen ausdrückt. Zum einen haben die beiden mehrere Wochen acht Stunden am Tag ihre Songs geprobt, bevor es ins Studio ging. Death Cab For Cutie Gitarrist und Produzent Chris Walla, mit dem schon am Vorgänger "The Con" gearbeitet wurde, wollte diesmal mit den Zwillingsschwestern und einem Studio-Schlagzeuger alle Tracks live einspielen, um so noch mehr ein Bandfeeling entstehen zu lassen. Nicht zuletzt durch diese Aufnahmevorgabe hat die Single "Hell" ihren geradlinigen Drive erhalten.
Überzeugender sind Tegan & Sara jedoch dann, wenn auf die strighten Indiegitarrenstrickmuster zu Gunsten eines elektronischen Popappeals verzichtet wird. So findet sich nach der zehnjährigen Bandgeschichte mit dem groovigen, swingenden Pianostück "Alligator" zum ersten Mal ein Song auf einem Album, der komplett auf Gitarren verzichtet. Der seltsame Beat von "Night Watch" und die schrägen Keyboardflächen gehören da ebenso zu den frischen Klang- und Arrangementexperimenten, wie die einerseits zögerliche und trotzdem treibende Pop-Perle "Paperback Head" mit ihrer Fuzz-Gitarre, die sich Tegan & Sara fast schon von Wayne Coyne ausgeborgt haben könnten.
Dass die rockige Seite mit all ihrer offensichtlichen Dringlichkeit auf "Sainthood" überwiegt, liegt auch in der Grundthematik des Albums. Geht es doch um den schmalen Grad des Verliebtseins zwischen realistischer Euphorie und unrealistischem Vorstellungswahn.

Lindsey Byrnes
Tegan: "Das letzte Album 'The Con' handelte vom Ende von Beziehungen. unsere Großmutter ist zu dieser Zeit gestorben und Sara und ich hatten gerade fünfjährige Beziehungen hinter uns. Auf 'Sainthood' geht es eher darum, alles zu tun und zu lernen, um ein guter, besserer Mensch zu sein. Es geht um die Aufregung des Verliebt seins, die Selbsttäuschung, die Hingabe, die Geduld und gleichzeitig Leidenschaft am Anfang einer Beziehung. Es ist auf alle Fälle ein Album voller Hoffnung."
Am 29. 1. 2010 gibt es in Connected (15-19h) eine Listening Session vom neuen Album.
All die Themen, Haltungen und Stellungen, die Tegan & Sara auf ihrem sechsten Album beziehen, scheinen vor Selbstbewusstsein zu strotzen. Gleichzeitig spürt man in jedem Song des Duos und jedem Satz, dem Tegan im Interview mit euphorischem Ton Nachdruck verleiht, eine gewisse vorfreudige Nervosität und Aufgeregtheit. Schließlich weiß man nie, wie Fans und Kritiker ein Werk aufnehmen werden, vor allem wenn man besonders viel Herzblut hineingesteckt hat. "Sainthood" ist vielleicht nicht der große Wurf, vor allem auf musikalischer Ebene, denn da wäre noch einiges mehr an Experimenten und Überraschungen drinnen gewesen, jedoch ist es ein solides, vor Lebensfreude sprühendes Album, dem man sich mit all seinem mitgelieferten Charme nicht entziehen kann. Vor allem dürfen wir uns auf die Live-Performance von "Sainthood" freuen, die durch die harte Arbeit an den Songs sicher zu einem furiosen Bandspektakel geworden ist.