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Anna Mayumi Kerber Nairobi

Reportagen und Geschichten aus Ostafrika.

29. 1. 2010 - 15:05

Unserer Zeit voraus

Im Jahr 2960 ist ein Dattelkern wichtiger als ein König. Zumindest für einen Abend im marokkanischen Mirleft.

Bunte Luftballons schmücken den vergilbten Raum, der von Neonröhren ausgeleuchtet wird. Die Wände kleben, die Tische auch. Darin sitzen rund 150 Menschen auf eng gereihten Plastiksesseln, zahlreiche drängen sich rundum. Man kämpft um das bisschen Sauerstoff im Raum. Die glänzenden Augen blicken allesamt gebannt zur Bühne, die keine ist. Die Band sitzt aufgefädelt der Wand entlang, vor ihr werden Mikrofone weitergereicht. Lachen, Klatschen, freundliches Grüßen: "Welcome, Welcome!" Willkommen im Jahr 2960!

Silvesterfeier in einem Lokal in Mirleft (Marokko), das mit Luftballons geschmückt wurde

anna mayumi kerber

Kinderstimmen kreischen aus den Lautsprechern. Die Technik ist aus den frühen Neunzigern des vorigen Jahrtausends. Die Menschen gehören zu einem der ältesten Völker Nordafrikas. In Mirleft, einem marokkanischen Küstenstädtchen, feiern Berber Yennayer, das neue Jahr. Das Jahr 2960. Und das (wie auch jedes andere) beginnt für sie am 14. Januar.

Berber: Oberbegriff für Volksgruppen im nördlichen Afrika.
Verbreitung: Algerien, Marokko und Tunesien, weiters: Libyen, Mauretanien, Ägypten und in einigen westafrikanischen Staaten (Burkina Faso, Niger, Tschad und Mali)
Wichtige Berbersprachen: Tuareg, Tarifit, Taschelhit, Tamazight und Kabylisch; daneben dutzende Dialekte gesprochen von rund 30 Millionen Menschen
Schrift: Tifinagh (auch Tifinar) und Arabisch
Berühmter Berber: Zinedine Zidane (Kabyle aus Algerien)

Die Berber sind mit über 80 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe Marokkos. Genaugenommen ist Berber ein Oberbegriff für eine Reihe von Gemeinschaften in Nordafrika. Darunter fallen etwa die Atlas-Berber im marokkanischen Atlas-Gebirge, das nomadische Volk der Touaregs in den Saharagebieten, sowie die Kabylischen Völker in Algerien.

Den Hintergrund ihrer Zeitrechnung kennen viele hier auf der Party nicht. Und auch Said Oubrik muss erst noch einmal nachrechnen, bevor er sich auf seine Erklärung festlegen will. Said ist Mitarbeiter bei der Association Tudert Amazigh. Das ist einer von drei Vereinen in Mirleft, die sich für den Erhalt der Berber-Kultur einsetzen. Jedoch "die einzig wirkliche", wie der 24-Jährige meint. Denn die anderen würden nur etwa Sommerkurse anbieten, während Tudert das ganze Jahr über aktiv sei.

Eingang zu einem Vereinslokal in Mirleft, Marokko

anna mayumi kerber

Eingang der Association Tudert, einer von drei Vereinen in Mirleft, die sich für den Erhalt der Berberkultur einsetzen

Said und sechs weitere ständige Mitarbeiter auf Freiwilligenbasis unterrichten Tamazigh, die Sprache der Berber im marokkanischen Atlas-Gebirge, sowie Tifinagh, das Alphabet, das den Berbersprachen (neben dem Arabischen) gemeinsam ist. Für Kinder ab dem Volkschulalter, aber auch etwa für alte Frauen, die auch in keiner anderen Sprache schreiben oder lesen können. Auch macht sich Tudert für die Einführung des Berberischen als offizielle Sprache (neben Arabisch und Französisch) stark. Zusätzlich organisiert der Verein Fußballturniere oder allfällige Festlichkeiten, wie etwa diese Neujahrsfeier.

Hauptstraße mit Straßencafés in Mirleft, Marokko

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Cafés, Greißler und Souvenirläden säumen die sandige Hauptstraße von Mirleft

Said hat fertig gerechnet: "950 Jahre vor Christus hat der Berberkönig Scheschong die Pharaonen in Ägypten besiegt. Damit beginnt die Zeitrechnung der Berber." Heute sind viele marokkanische Berber sesshafte Bauern. Lediglich die Touaregs, eine Untergruppe, ziehen als Nomaden durch die Wüste.

Hassan ist, wie alle hier, stolzer Imazigh (eine weitere Untergruppe) – wäre aber trotzdem gern ein Touareg. Dem 27-jährigen gefällt die Idee des heimatlos Umherziehenden und setzt diese auf seine Weise um. Er bandelt mit ausländischen Frauen an, wie etwa zur Zeit mit Brenda. Die Britin geht auf die 50 zu und mietet seit ein paar Monaten eine Wohnung in Mirleft. Als Ausgleich zum verregneten Liverpool. Ein bisschen Wärme, von der Sonne und von Hassan, der seither bei ihr unterschlüpft.

In dem 7000-Einwohner-Städtchen sind Ausländer keine Seltenheit. In den 70ern zog das Nest und die umliegenden Strände mit feinem Sand, eingeschlossen von einer atemberaubenden roten Felsküste zahlreiche Hippies an. Viel Sonne, viel Hasch – das gibt es auch heute noch und irgendwie passte das auch gut mit den Berbern zusammen, wie die Jungs in den Straßencafés meinen. Künstler, Aussteiger und Surfer. Die Wellen haben ein neues Publikum nach Mirleft gebracht, ein jüngeres. Die kommen aber zumeist im Sommer, im Januar ist es ruhig.

Die Silvesterparty ausgenommen. Die nächste Showeinlage stammt von einen Ensemble, Durchschnittsalter neun Jahre. Zu der poppigen Nummer auf Englisch singen Buben und Mädchen. Die einstudierten Schritte und die Qualität ihrer Ausführung ist wie wohl bei jeder Schulaufführung sonst wo – mäßig gut. Und das Publikum – begeistert.

Strand in Mirleft, Marokko

anna mayumi kerber

Beeindruckende Felsküste mit 'Jacques-Chirac-Cave', benannt nach dem französischen Ex-Präsidenten, weil ihr Umriss seinem Profil (Nase!) ähnelt

Auf den Straßen Mirlefts sieht man Jungen und Mädchen selten zusammen. Wenn sie etwas älter sind erst recht nicht. Ein Großteil der Berber wurde von den Arabern islamisiert und der überwiegende Teil ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Aber es gibt zum Beispiel auch jüdische Berber. "Wir sind da viel offener," erklärt Said. Gegenüber Juden mag sein, was Frauenrechte angeht, nicht unbedingt. Zumindest nicht für europäische Begriffe. "Doch, doch. Frauen und Mädchen dürfen schon das Haus verlassen", widerspricht Said. Wenn die Arbeit im Haus erledigt sei und die Sonne tief stehe. "Kurz vor Sonnenuntergang gehen die Mädchen manchmal gemeinsam zum Strand. Für etwa eine Stunde. An manchen Tagen."

Said rutscht bei dem Thema auf der Bank herum, ringt nach Worten und lenkt dann ab: "Wenn du ein guter Mensch bist, dann bist du in der Berberkultur willkommen. Wenn du etwas Schlechtes tust, dann schließen wir dich aus. Das hat nichts mit Religion zu tun." Schlecht ist etwa, wer stiehlt. Das müsse man aber auch nicht, wenn man mit Berbern zusammenlebt. Denn eines ihrer obersten Gebote ist zu teilen. Das schreibt übrigens auch der Islam vor.

Ausgeteilt wird nun auf der Neujahrsfeier das Berkouks. Eine Speise, ähnlich dem Couscous, dann aber mehr wie ein harter Brei, der etwas nach dem abgestandenen Wasser schmeckt, mit dem er zubereitet wurde. Dass dem Berkouks hier Salz, Zucker oder sonstige Gewürze vorenthalten wurden, macht nichts, denn aufgegessen wird es sowieso. In dem riesigen Topf, aus dem für alle geschöpft wird, wurde nämlich ein Dattelkern versenkt. Markiert, damit keiner schummeln kann. Glücklich, wer darauf beißt, denn ihm ist ein Überraschungspreis gewiss. Was das war, weiß am Ende dieses Abends in Mirleft niemand so genau. Aber darum ging es ja nicht. Sondern um – wie war das noch gleich...?