Erstellt am: 26. 1. 2010 - 13:49 Uhr
Eine kurze Geschichte der Zeit
Wie soll ich jetzt spoilerfrei über meine Gedanken schreiben, die mir bei den ersten Songs von The Big Pink gestern durch den Kopf schwirrten?
Schließlich fühlte ich mich auf seltsame Weise an den Anfang der fünften Staffel der süchtigmachendsten TV-Serie überhaupt erinnert. In diesem wahnwitzigen Season-Opener sind die auf einer mysteriösen Insel gestrandeten "Lost"-Helden mit einem verstörenden Phänomen konfrontiert.
Ein grelles, blendendes Leuchten kündigt eine Reihe von Zeitverschiebungen an, die völlig unberechenbar aufeinander folgen. Einmal verbleiben die Protagonisten etwas länger in einem bestimmten Jahr, dann wieder nur einige atemlose Momente lang.
Und auch in der gut gefüllten, aber lange nicht ausverkauften Wiener Arena ist es weißes, zerhacktes Bühnenlicht, das diverse Zeitsprünge einleitet, oft innerhalb bestimmter Songs.
Eben stehen da noch oder schon wieder The Jesus and Mary Chain in ihrer mittleren Phase als The Big Pink auf der Bühne, dann, ein paar Takte später, schälen sich gar die ganz frühen Sisters Of Mercy aus dem bittersüßen Noisepop.
fm4 ondrusova
Aber bevor der bedrohliche Begriff "Gothic" mit allen dazugehörigen Missverständnissen vor dem geistigen Auge erscheint, switcht die Band schon wieder durch die Dekaden.
Plötzlich taucht, mitten in einer sakral anmutenden Stimmung, ein Refrain aus dem Nebel auf, für den etliche Baggybands der Madchester-Ära ihre Sammlung illegaler Substanzen getauscht hätten.
Dann, bevor die Atmosphäre zu schunkelig und versöhnlich im Ian Brown-Sinn wird, krachen Lärmwände herab, flirrt der Noise, schüttelt der Livebassist seine Haarmatte wie bei Industrialmetal-Konzerten aus der Godflesh-Ära.
Und noch bevor das Surren in den Ohren ausklingt, kündigt Sänger Robbie Furze mit einem Grinsen eine Coverversion an. Das Tambourine und verklingende Gitarrenfeedback lassen an die Warhol-Factory der späten Sixties denken, an Lou Reed, Nico und die Götter aus dem samtenden Untergrund.
Aber die Zeitreise führt ins Hier und Jetzt und aus elegischen Keyboardflächen kriecht im Zeitlupentempo eine tanzende Beyoncé Knowles aka Sasha Fierce heran (imaginär), der Mann mit der Engelsstimme singt "You could be a sweet dream or a beautiful nightmare, either way I don't wanna wake up from you."
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Die Lyrics dieser wunderbaren Nummer, mit ihren Beschwörungen von schlaflosen Nächten und schönen Albträumen, passen fast schon zu Gänsehaut erregend gut zu diesem Duo, das live von dem erwähnten Mann am Bass und der quirligen Comanechi-Drummerin Akiko verstärkt wird.
Denn Robbie Furze, Ex-Gitarrist von Alec Empire und sein Partner Milo Cordell, Klangtüftler und Gründer des famosen Merok-Labels, diese beiden Londoner sind der Liebe auf der Spur, wie schon tausende andere Bands zuvor. Beziehungsweise eher den Schrammen der Liebe, den Panikattacken, Betrügereien und Aggressionsschüben, die zur echten Obsession gehören. This girls fall like dominos!
Auch das ist bekanntlich nicht neu. Und ich kann sie hören, die Besserwisser, wie sie über die unzähligen erwähnten formalen Referenzen lästern, die sich Furze und Cordell auf ihren Zeitreise-Ausflügen einverleiben.
Dabei, und das ist der Punkt, wirkt hier nichts schamlos geklaut oder lieblos zitiert. Was The Big Pink so groß macht und ihr Album zu einem absoluten Meilenstein des vergangenen Jahres, ist, dass sie eben kein musikalischer Fleckerlteppich sind, keine Crossovercombo, wie das irgendwann mal im letzten Jahrhundert geheissen hat.
fm4 ondrusova
Die unzähligen, oft auf spannende Weise gegensätzlichen Einflüsse, die diesen Sound entstehen lassen, resultieren schlicht aus der Sozialisation der beiden Big Pinks. Und um die zu verstehen, muss man nur die Bühnenkleidung studieren.
Milo Cordell, der am Anfang das "I Wanna Get High"-Intro von Cypress Hill startet, steht im fetten Parka da, auf dem dann aber kein Hip Hop-Aufnäher prangt, sondern ein Einstürzende Neubauten-Logo. Neben ihm Robbie Furze, der sich mit seinem The Jesus and Mary Chain-T-Shirt so direkt gibt, dass es schon fast wieder absurd wirkt. Dazu der Metalbassist und die Schlagzeugerin, die auch zu den Boredoms passen würden.
Im Gegensatz zur eh sympathischen, aber in ihrer grungigen Einförmigkeit auch leider sehr faden Vorband The Japandroids, signalisieren The Big Pink alles andere als Geschlossenheit. Es geht, wie in der wirklichen gegenwärtigen Welt und wie in der Liebe, um unzählige Dinge, die kollidieren, parallel laufen, sich widersprechen.
Diese Musik ist hymnisch, pathetisch, aufgeblasen und bodenständig, relaxt und tanzbar zugleich. Soul Noise, Hip Hop Gothic, Industrial Pop oder einfach: Das große Rosa. Es war ein schöner, befreiender Abend. Und ich bin sicher, auch die "Lost"-Crew wird am Ende ihrer Reise durch die Zeit erlöst werden.
fm4 ondrusova