Erstellt am: 24. 1. 2010 - 18:47 Uhr
Avatare & Surrogate
Fast täglich begegne ich Menschen da draußen, die dem größten Filmphänomen der Gegenwart kopfschüttelnd gegenüber stehen. "Zugegeben", erklären sie, "die 3D-Effekte sind schon toll, technisch ist das alles sehr beeindruckend. Aber du liebe Güte, die Story ist doch dermaßen platt, und auch das Design der Figuren kann nicht ernst gemeint sein."
Dabei, antworte ich dann, gehört gerade der ästhetische und inhaltliche Bruch mit einer gewissen allgegenwärtigen, alles verseuchenden Abgebrühtheit zu den schönsten Verdiensten von James Camerons Wunderwerk "Avatar".
In einem Hier und Jetzt, wo gegen die Traummaschine Kino und die dazugehörenden Erzählungen immer häufiger öde Vernunftargumente ins Spiel gebracht werden, erscheint die bedingungslose Hingabe an den pulsierenden, leuchtenden, funkelnden Kitsch beinahe als radikale Haltung.
"Im Zweifel für die Zwitterwesen aus weit entfernten Sphären, im Zweifel fürs Erzittern beim Anblick der Chimären", bringen es Tocotronic im derzeit besten Song von überhaupt auf den Punkt.
Centfox
Dabei ist dieses freiwillige und rauschartige Sich-fallen-Lassen in einen Kosmos der bewussten Navi-Naivität, dieser knallbunte Disco-Aspekt des Films sozusagen, natürlich nur ein Ansatz zum ungeheuer reichhaltigen Themenkomplex "Avatar".
Nicht trotz, sondern gerade wegen der dünnen Story kann man über diesen Film endlos diskutieren, Bücher oder Diplomarbeiten schreiben. Denn James Cameron arbeitet wie ein genialer Popsong-Schreiber, der vorsätzlich die begrenzten Mittel des Strophe-Refrain-Schemas benutzt, um Explosionen in Herz und Hirn auszulösen.
Ganz bewusst reduziert er seinen Plot auf das Minimalste, damit wir Zuseher uns immer wieder von der Geschichte verabschieden und in unseren eigenen Assoziationen und Gedanken verlieren können. In einem Wechselbad der Gefühle, einem Dickicht aus Mythen und Monstren, Hi-Tech-Fetischismus und Naturgläubigkeit, Science-Fiction-Visionen und Wild-West-Romantik.
Von einem Zwiebelfilm spricht Georg Seeßlen in seinem klugen Review, weil dieser Streifen so viele Schichten hat, die vom knalligen Popcornkino über antiimperialistische Botschaften zum Philosophieseminar führen.
Centfox
Etliche dieser Ebenen, die "Avatar" unter seiner scheinbar trivialen Oberfläche verbirgt, kulminieren im vielleicht zentralsten und berührendsten Kinobild dieser Tage.
Wenn gegen Ende des Films der kleine, verwundete, gelähmte (nicht nur im wörtlichen Sinn) Soldat Jake in den Armen der riesigen, immens starken und gleichzeitig hochsensiblen außerirdischen Neytiri liegt, dann beschwört Cameron hier vieles gleichzeitig.
Er zeigt, dass uns das Andere und Fremde letztlich retten wird, er deutet den Sieg des Weiblichen über eine falsch verstandene, zerstörerische Männlichkeit an, er lässt ganz altmodisch die Liebe über Ideologie, Ökonomie und Militarismus triumphieren.
Darüber hinaus fasst Cameron aber in dieser Schlüsselszene und im darauffolgenden Finale auch zusammen, wovon sein ganzes Epos eben auch zentral handelt: von der Vereinigung des Authentischen mit dem Artifiziellen, vom kompletten Aufgehen in künstlichen Ersatzwelten. Von unserer Zukunft schließlich, von der "Avatar" nicht nur handelt, sondern die wir Zuschauer mit unseren billigen 3D-Brillen auch zum ersten Mal glaubwürdig erahnen dürfen.
Centfox
James Cameron gelingt es damit, einen Begriff wieder ernsthaft in die Diskussion zurückzuholen, der im filmischen Kontext abgegriffener nicht sein könnte, den der virtuellen Realität nämlich.
Erinnert sich noch irgendwer an lustige Kindergarten-Sci-Fi Marke "Tron", "The Lawnmower Man" oder gar "Johnny Mnemonic", an die vielen Hollywood-Versuche, die Prognosen von Cyperpunk-Apologeten wie William Gibson mittels trashiger Effekte zu visualisieren? Erst der Beginn der "Matrix"-Saga überraschte mit neuen Zugängen, die von den Wachowski-Brüdern in den Sequels dann aber auf spektakulär verquaste Weise in den Sand gesetzt wurden.
Wirklich bemerkenswert fingen die Second-Life-Thematik bislang nur zwei Filmemacher ein: David Cronenberg und Kathryn Bigelow.
Ersterer verzichtet in seinem dezidiert spröden Computerspiel-Schocker "eXistenZ" gänzlich auf den gängigen peinlichen Cyberlook. Und Bigelow kommt in ihrem Millenniums-Thriller "Strange Days", dessen Drehbuch James Cameron verfasste, den Romanen von Gibson am nähesten.
Kinowelt
Was diese beiden höchst unterschiedlichen Filme aus den Neunzigern verbindet: Sie sind faszinierende Fantasie und verstörende Dystopie, mahnen vor den Heilsversprechen der Virtual Reality, verstehen aber gleichzeitig die Bedürfnisse der Protagonisten, sich in künstliche Erlebniswelten einzuklinken.
Weitaus eindeutiger schwenkt jetzt Regisseur Jonathan Mostow in "Surrogates" den warnenden Zeigefinger. In der futuristischen Zukunft dieses Films ist jenes Leben aus zweiter Hand, das eingefleischte Webjunkies schon jetzt praktizieren, vollständig Wirklichkeit geworden.
Während die Bevölkerung in abgedunkelten Räumen auf der Couch liegt, laufen täuschend ähnliche Surrogate durch den Alltag. Und diese schicken Roboterkopien können alles besser, schneller und länger als Menschen, vom Laufen bis zum Sex.
Ein brutaler Mord sorgt allerdings für Aufruhr im künstlichen Paradies. Bruce Willis in seiner Standardrolle als knochenharter Cop soll den Täter finden, zunächst als Surrogat, aber bald schon muss das abgekämpfte Original den Hintern hochbewegen. Und natürlich legt sich der alte Actionveteran mit den gestreamlineden Androiden an.
Walt Disney
"Surrogates" ist dann am besten, wenn er unserer Facebook-Gesellschaft sarkastisch den Spiegel vorhält und die armseligen und einsamen Besitzer hinter den Surrogaten zeigt, mit ihren müden Augen und ihrer schlechten Haut.
Aber Jonathan Mostow verrennt sich schließlich in einen vorhersehbaren Kulturpessimismus, der weit hinter die erwähnten Mensch-Maschinen-Symbiose-Streifen zurückfällt und am liebsten die Technologie als Ganzes abschaffen würde.
So bleibt "Surrogates", obwohl er sich um scheinbar mehr Realitätsbezug bemüht als das Fantasymärchen "Avatar", nur eine altbackene und etwas muffige Mischung aus Blockbuster und Belehrung.
James Cameron ist da ungleich weiter, indem er sich auf keinen simplen Standpunkt einlässt, sondern bewusst die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit, die Zerrissenheit zelebriert. Er macht selbst Virtual-Reality-Skeptiker wie meine Wenigkeit süchtig nach der Simulation, gleichzeitig zeigt er die Entfremdung, die uns in der Hi-Tech-Zukunft erwartet.
Wenn man, wie es mir erging, glückselig aus dem Kino taumelt, überwältigt von Pixelromantik und Erdverbundenheit von der Festplatte, von einer Feier der Natur mit den Mitteln der absoluten Künstlichkeit, dann bleibt trotzdem eine seltsame Wehmut zurück. Wer auf dem Planeten Pandora wohnen will, muss seinen Körper aufgeben. Und das, prophezeit uns Mr. Cameron, werden wir wohl alle irgendwann tun.
Centfox