Erstellt am: 22. 1. 2010 - 14:49 Uhr
Defamation
Der 39-jährige Regisseur Yoav Shamir, der in Tel Aviv Geschichte und Philosophie studiert und unter anderem einen regierungskritischen Film über das Dauerreizthema Checkpoints gedreht hat, wendet bei seinem Film Defamation einen seit Michael Moore salonfähig gewordenen Taschenspielertrick an. Zu ostentativ jeden Betroffenheitsgestus scheuender "leichter" Musik gibt er zunächst das über die Rätselhaftigkeit der Welt staunende Kind, das eine simple Frage anzutreiben scheint: Geht ein Gespenst um in Israel? Oder ist der Antisemitismus tatsächlich so monströs und weitverbreitet in der Welt, wie die heimischen Medien behaupten? Und wenn ja, wie und wo zeigt er sich? Das naive Kind in Yoav Shamir weiß es nicht. Und befragt so zum Beispiel seine Großmutter - die verwirrenderweise rasch in diverse aberwitzige antisemitische Klischees verfällt.
Yoav Shamir
Die filmische Recherche zu den Manifestationen des Judenhasses führt den Filmemacher von Israels Alltag und seinen Gedenkstätten in die USA und nach Polen, nach Moskau und nach Rom. Die Antwort muss nämlich dramatisiert werden. Deshalb widmet er sich zum einen Abe Foxman, dem unermüdlichen Präsidenten der weltweit operierenden Anti Defamation League. Zum anderen dessen provokanten Gegenspielern wie den (im Film zusehends entgleisenden) "Holocaust-Industrie"-Kritiker Norman Finkelstein oder den Politologen John Mearsheimer und Stephen Walt, Autoren des äußerst umstrittenen Buchs "Die Israel Lobby" .
Yoav Shamir
Trotz einiger ärgerlicher Verharmlosungen, etwa durch den realitätsverweigernden israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery, zeigt sich, dass die Frage nach der Existenz des Antisemitismus eigentlich gar nicht im Zentrum steht. Bzw. auch nicht stehen kann. Denn nur, wer bewusst die Augen verschließt, kann dessen Jahrhunderte anhaltende Konjunktur ausblenden - in Europa, im arabischen Raum und anderswo. Shamir geht es folgerichtig auch nicht um den Ursprung oder belegende Aussagen, sondern um die israelbezogenen, vielfältig ge- und missbrauchten kulturellen und politischen Umgangsformen mit dem offenbar unausrottbaren kollektiven Wahn und seiner ungeheuerlichsten Ausprägung im Holocaust. Ist ein Angriff auf die Politik Israels bzw. den Zionismus tatsächlich meist nur versteckter Antisemitismus? Oder verhindert umgekehrt ein reflexhafter Antisemitismus-Vorwurf jede Form der Kritik?
In der Vertiefung dieser Fragen verzichtet Shamir über lange Passagen des Films auf eine eigene Position und setzt stattdessen auf das Prinzip Neutralität durch Kontroverse. Nach und nach verkompliziert sich aber die Lage, und die Deckung des naiven Fragestellers wird aufgegeben. Denn der Antisemitismus (mit dem Verweis auf den absoluten Schrecken des Holocaust) hat im heutigen Israel zweifelsohne eine starke identitätsstiftende Funktion. Er ist möglicherweise sogar wichtiger als zu Zeiten der zionistischen Gründerjahre Israels, in denen die Überwindung des Opferdiskurses und die Schaffung eines Neuen Menschen im Zentrum standen.
Yoav Shamir
Heute aber, nach über 40 Jahren Legitimationsbedarf für die Besatzung und angesichts der weltweiten Hassrituale gegen Israel und der unverhohlenen Genoziddrohungen aus dem Mund des iranischen Präsidenten, erscheint die Geschichte mit neuer Bedeutung aufgeladen.
Dementsprechend finden sich die eindringlichsten Momente von "Defamation" weniger im Wettstreit der Argumente über die Instrumentalisierungen des Antisemitismus, sondern in den Einsichten persönlicher Desorientiertheiten. Shamir begleitet etwa auch eine Gruppe israelischer Schüler nach Auschwitz. Deren Reaktionen schwanken zwischen sie selbst schockierender mangelnder Empathie, der Relativierung des palästinensischen Leids angesichts der Gaskammern und dem (sich selbst im nächsten Moment gleich wieder verbotenen) Wunsch nach Rache. So kehrt die Geschichte wieder; traumatisch und unbewältigbar.
Shamir empfiehlt daher am Ende im Kommentar, den Ballast der Vergangenheit abzuwerfen und den Blick in die Gegenwart und Zukunft zu lenken. Aber was für eine Gegenwart in einem vom Nahost-Konflikt geprägten Staat kann das sein? Eine Einstellung gegen Ende zeigt die letztlich doch vom Grauen überwältigten, weinenden Teenager. Sie bilden vor den Gebäuden von Ausschwitz einen Kreis. Einer der Schüler hat eine Israel-Fahne dabei. Der Kreis schließt eine Gemeinschaft im Schock. Aber er schafft auch ein neues Außen.