Erstellt am: 21. 1. 2010 - 17:56 Uhr
Manchester is in danger!
Es ist immer schwer, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen oder sich ihr gar entziehen zu wollen. Im Fall von Manchester ist es für die dort aufwachsenden Musiker fast unmöglich, sich dem großen, musikalischen Erbe nicht bewusst zu sein. Vor allem die "Madchester" und Haçienda-Zeit war sowohl für den Indiegitarrenpop als auch für die Elektronik und Dance Szene prägend. Und wenn das Interesse und die Offenheit der heranwachsenden Künstler sich auf beide Gefilde erstrecken, dann kann es passieren, dass daraus ein frischer und eigener Ansatz entsteht.
So sind auch Matt Cocksedge, Richard Boardman und James Cook von Delphic klarer Weise "Mancunians", die in der Tradition von verzerrten Gitarren und tanzbaren Beats stehen. Das zu leugnen wäre wirklich unsinnig. Und trotzdem steht Matt dem sich ständig selbst reproduzierenden Fokus auf die Vergangenheit sehr kritisch gegenüber.
Matt: "Wenn du in Manchester aufwächst, dann ist es unmöglich, all die Bands, die aus dieser Stadt gekommen und groß geworden sind, nicht zu kennen. Dieses Vergangenheitsbewusstsein scheint fast schon genetisch veranlagt zu sein. Aber ich denke, dass Manchester wirklich Gefahr läuft, unter der Last seines musikalischen Erbes zu ersticken. Vielleicht ist das zu drastisch ausgedrückt. Manchester ist wie ein Heißluftballon, an dem zu viele alte Bands wie Sandsäcke hängen. Man muss sie vergessen und abwerfen, damit der Ballon wieder aufsteigen kann."
Mit ihrem Debüt "Acolyte" versuchen Delphic einerseits, diesen Ballast für ihre eigene Produktion über Bord zu werfen, andererseits ihn zu transformieren.
Delphic
Zwischen Hügeln und Seen
Um den Kopf frei zu bekommen, mussten die drei Jungs von Delphic auch physische Distanz zu ihrer Heimatstadt aufbauen. Eine kleine Hütte im englischen Nationalpark Lake District, fernab von Radio, Konzerten und Internet, war die richtige Umgebung, um sich Gedanken über den eigenen Sound zu machen, mögliche Arbeitsweisen auszuprobieren und etablierte weiterzuentwickeln. Denn Matt, Rick und James gehören definitiv nicht zu den Musikern, die sich in feuchten, dunklen Proberäumen treffen und herumjammen, bis irgendwann klassische Indiepopnummern entstehen. Was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass sie gar keinen Proberaum besitzen, wie Rick erklärt.
Rick:"Wir hatten keinen Raum, um uns zu treffen, sondern lediglich einen Laptop und einen Synthesizer. Diese Limitierung hat unsere Art, Nummern zu schreiben, wesentlich beeinflusst. Wir dachten: Wäre es nicht interessant, mit den Instrumenten eine Produktion anzufangen, die man eigentlich erst am Schluss hinzufügt? Deshalb haben wir immer mit der Elektronik angefangen und gesagt, die Gitarren kommen als letztes dran. Nachdem wir in unserer Wohnung die Songgerüste fertig hatten, suchten wir uns für die Live-Umsetzung einen Schlagzeuger und so wandelte sich der Delphic Sound."
Schon der Eröffnungstrack "Clarion Call", der mit einer geschnittenen und gesampleten Gitarre beginnt, die anschließend von Synthie-Flächen, Clicks-and-Cuts und sphärischem Vocals zugedeckt wird, ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Trio arbeitet. Denn nach eineinhalb Minuten bricht mit einem heftigen Schlagzeugbeat der laute Teil der Nummer los, gefolgt von energischem Gesang und dahinfegenden Gitarrenlinien, die sich gegen Ende zu einem furiosen Finale steigern. Und das alles in nicht einmal drei Minuten.
Delphic
Completely fifty fifty
Die Single "Doubt", als zweiter Song der Platte, beginnt mit einer schrägen, verfremdeten Stimme. Es ist nicht nur eine witzig gemeinte Anlehnung an Aphex Twins "Windowlicker", sondern soll uns auch gleich in den Spannungsbereich zwischen elektronischer und organischer Welt führen. Eine menschliche Stimme in einer derart digital modulierten Art einzusetzen, korreliert auch mit der persönlichen Sozialisation und den Einflüssen der Band.
Matt: "Wenn uns jemand fragt, ob wie mehr von Gitarrenmusik oder Elektronik beeinflusst wurden, würde ich sagen, dass es sich komplett die Waage hält. Also Fünfzig zu Fünfzig. Beispiel dafür wären bei mir Kraftwerk und Radiohead. Bei Rick wären es Daft Punk und David Bowie. Und James würde vermutlich Beatles und Björk anführen."
Interessanterweise erinnert das neueste Video zu "Doubt" auch an die visuelle Umsetzung von den Songs der isländischen Ausnahmekünstlerin.
Ein zweigeteiltes Bild liefern auch die Themen und Stimmungen auf "Acolyte". Die unterkühlten Keyboardflächen vermitteln eine dunkle Atmosphäre, wobei sie meist durch die warmen und melancholischen Gesangslienen gebrochen werden.
Delphic
Entsprechend drehen sich die Texte auch um die Zerrissenheit zwischen Euphorie und düsterer Vorahnung. Die beschriebene Gefühlswelt schwankt von Beklemmung und Ängstlichkeit zu einem freudigen Hochgefühl der Neugier und des Neuen an sich. Grundsätzlich sieht Matt das Album jedoch als durchwegs hoffnungsvoll an, auch wenn man an den meisten Punkten noch nicht weiß, ob sich die positiven Vorstellungen zukünftiger Ereignisse und Dinge bewahrheiten werden. Der Sound von Delphic repräsentiert eine Art Zwischen- oder Übergangswelt und wirkt dadurch streckenweise mystisch.
James beschreibt die Stimmung am besten, die Stücke wie der instrumentale, clever aufgebaute, hypnotisierende und sphärische Titeltrack "Acolyte" erzeugen.
Delphic
James: "Es geht um dieses Gefühl das du hast, wenn du um fünf Uhr in der Früh nach einer durchgemachten Nacht nachhause gehst. Der Himmel hat diese unglaubliche blauviolette Farbe und die Vögel fangen an zu zwitschern. Alles wirkt fremd und man fühlt sich ein bisschen verloren. Im selben Moment jedoch du weißt genau, dass du schon fast daheim angelangt bist."
Art is no four-letter word
Das Konzept von Delphic geht jedoch über die auditive Ebene hinaus. Die jungen Musiker aus Manchester sind überaus kunstinteressiert, vor allem, wenn es um Filme geht. Ihr Video zu "This Momentary" wurde letztes Jahr vollkommen zu Recht für den UK Musik Video Award nominiert. Es zeigt ausschließlich Aufnahmen von Menschen und ihren Lebensumständen im heutigen Tschernobyl, dreiundzwanzig Jahre nach der Atom-Katastrophe. Die kunstvoll gefilmten Momente zeigen die Geisterstadt und ihre Bewohner in berührenden und manchmal auch bedrückenden Bildern. Und doch ist zwischendurch immer wieder eine Energie und auch ein kleines Stück Hoffnung zu spüren.
Der künstlerische Aspekt bringt dem Elektropoptrio manchmal das beliebte Vorurteil ein, sie wären arty, pretentious, nancy boys. Etwas, das für Matt ein "typisch englisches Phänomen" ist und mit dem er mittlerweile mit Witz und Ironie umzugehen weiß.
Matt: "Es ist vielleicht der englische Zynismus der dir entgegenschlägt und vermittelt, dass wenn du dich mit Kunst beschäftigst, dich eigentlich schämen solltest. Wenn du dir lieber Gemälde ansiehst, als zu einem Fußballmatch zu gehen, wirst du schnell als verweichlicht hingestellt. Das stört uns sehr, auch wenn wir keine Kunsthochschulabsolventen sind. Wir finden Kunst spannend, denn durch sie sprechen Künstler zu uns, sowohl persönlich als auch zu Massen von Menschen. Kunst ist also nichts, wovor man sich fürchten sollte."
Delphic sprechen durch ihre Songs auf mehreren Ebenen zu uns. Denn ihr Debüt "Acolyte" ist sowohl für den schweißtreibenden "Workout" im Club geeignet, als auch der perfekte Soundtrack für einsame Fahrten durch nächtliche Schneelandschaften.
Listening Session
Songs aus dem neuen Album und ein Interview mit Delphic gibt es heute, Donnerstag, in der FM4 Homebase (19-22 Uhr) zu hören.