Erstellt am: 17. 1. 2010 - 12:03 Uhr
Mandarinenträume
Mit tatsächlich nur mehr geringfügig beschränktem Zugang liegen heute die musikalischen Archive offen da, offen für uns, zu schauen und zu hören, sich zu bedienen und zu entdecken, Doom-Metal aus Kolumbien, knuspernde Elektronik aus dem Senegal, HipHop von den Philippinen. Größtmögliche Verfügbarkeit bis hin zum Grad der Übersättigung - selten passiert es da nur mehr, dass ein akustisches Fundstück, über das man gerade eben gestolpert ist, sich einem großartig als SO NOCH NIE Gehörtes offenbart, dass einem etwas eben Erlebtes augenblicklich als Erleuchtung ins Mark fährt.
Das Konzert der Berliner Band Tangerine Dream im Ostberliner Palast der Republik am 31. Januar 1980 soll das erste Konzert einer westdeutschen Popband (im weitesten Sinne) überhaupt in der DDR gewesen sein. Was klarerweise schon alleine als "Event" - vermutlich nahezu egal, von welcher Band - für nicht wenige Anwesende im Publikum einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben muss, wenn da aber so eine Gruppe wie Tangerine Dream ankommt, kann man davon ausgehen, dass diese Erfahrung einem wahrhaftigen Hineinhören in die ungeahnten Weiten des Universums gleichgekommen sein muss. Tangerine Dream, wegweisende Fahnenträger des elektronischen Seitenarms von Krautrock und Aushängeschilder von dessen "Berliner Schule", schwelgende Synthesizer-Wizards, später gefragte Score-Produzenten für Hollywood ("Sorcerer" von William Friedkin, immer wieder gut!) und irgendwann dann und immer wieder auch kitschbeladene Herolde von esoterisch dudelndem New-Age-Quatsch. Viele, die bei dem Konzert anwesend waren und an diesem Tag die Zukunft gesehen haben, sollten nun den dringenden Wunsch verspüren, fortan selbst an solch seltsamer, solch schöner Musik aus Maschinen zu basteln.

Mandarinenträume
Das hervorragende Münchner Label Permanent Vacation, das vornehmlich für großartige House- und Disco-Platten zuständig ist, aber auch beispielsweise schon zwei Compilations mit obskurer Library Music zusammengestellt hat, veröffentlicht jetzt mit "Mandarinenträume" eine berauschende Ansammlung von

Mandarinenträume
elektronischen Klangforschungen aus der DDR der 80er Jahre: "Electronic Escapes from the Deutsche Demokratische Republic 1981 - 1989" heißt es im Untertitel von "Mandarinenträume". Zu verdanken ist dieser Rückblick auf ein bislang fast völlig im Dunkeln liegendes Kapitel der Musikgeschichte Florian Sievers, Redakteur beim deutschen Musik-Magazin GROOVE: Wenn man denn dem Entstehungsmythos von "Mandarinenträume" glauben darf, war Sievers vor gut zwei Jahren vom merkwürdigen Artwork einer LP, die da in einem schwedischen Möbelhaus als bloße Dekoration herumstand, zu weiteren Nachforschungen angestachelt. Auf der LP zu sehen: Ein Wirbelsturm und der Schriftzug "Pond - Planetenwind", hinten drauf zwei Typen in komischen Astronauten-Overalls. "Planetenwind", mit rund 100.000 verkauften Einheiten der größe Elektronik-Hit der DDR, außerhalb des Landes nahezu vollkommen unbekannt.

Mathias Schuckert
Nach ausgiebiger Recherche, nach Interviews und intensiven Flohmarktdurchwühlungen hat Florian Sievers die kosmisch funkelnden Sound-Exkursionen von bislang fast gänzlich übersehenen Musikern und Projekten wie Julius Krebs, Reinhard Lakomy, KEY oder eben Pond zusammengetragen und zu einem tatsächlich beeindruckenden Dokument geformt. An Synthesizern, Drummachines oder auch gerne mal dem good old C64 haben die versammelten Musiker interstellare Planeten-Vermessungen vorgenommen, die sich neben der titelspendenden Band Tangerine Dream auch deutlich an die auf- und abschwellenden Ausritte eines Vangelis oder Jean-Michel Jarre anlehnen oder von den geil größenwahnsinnigen Prog-Experimenten von Bands wie King Crimson, Yes oder den frühen Genesis beflügelt sind. Auf "Mandarinenträume", dem auch ein üppiges Booklet mit Fotomaterial und Interviews mit den Künstlern beiliegt, gilt es, zerdehnte Ambient-Epen zu erleben, minimalistisch wabernde Elektronika, extrem gebremste Hängematten-Disco, vor allem aber Musik, die - bei aller deutlichen Bezugnahme auf bekannte Muster - in einem schon gut ausgeleuchteten Kosmos dennoch das eine oder andere unerwartete Feuerwerk zu Tage zu fördern vermag. Der beste Soundtrack für den nächsten Space-Shuttle-Start, für Schulfilme über chemische Reaktionen, Ziel-Einläufe von Marathon-Gewinnern und in Zeitlupe ausbrechende Vulkane. Es ist noch nicht alles entdeckt. The truth is out there.