Erstellt am: 15. 1. 2010 - 18:27 Uhr
Von Südseevorstellungen
No Paradise Lost
Spendenmöglichkeiten für Haiti hier
Haiti war nie ein Paradies. Das ist mit ein Grund, warum die USA kurz nach der Erdbebenmeldung als erstes Land umfassende Hilfe angeboten haben. Hier spielte wohl auch jene Einsicht eine Rolle, dass man am humanitären Desaster nicht ganz unbeteiligt ist. Die katastrophalen Verhältnisse vor und nach dem Beben lassen sich nämlich historisch mühelos auf das politische Engagement der USA in der jüngeren Geschichte der Region zurückführen. Doch nur ein Zyniker würde die jetzigen Hilfsaktionen aus Washington ernsthaft in Frage stellen.
AP
Mit der Erfahrung eines erst kürzlich absolvierten Aufenthalts in der Region (Jamaica) und mit einem "Album der Woche" in der Mache, dessen "karibische Qualitäten" im Sinne einer klischeehaften Südseevorstellung allerortens ausgelobt werden, befindet sich euer Rezensent in der moralischen Falle zwischen Anmaßung und Ignoranz.
Lest alles weitere also bitte als den Versuch einer Annäherung.
Die Katastrophe lässt viele scheinbar harmlose Formulierungen in bereits zuvor verfassten Texten zu "Contra" im Moment jedenfalls völlig deplatziert wirken.
Das wirft eine weiterführende Frage auf: Waren sie das vorher nicht auch schon?
Der Pop 2.0 sagt dazu selbstbewusst nein! Und Vampire Weekend sind an dieser Haltung nicht ganz unbeteiligt.
Der Postkoloniale Weltbeat
Die Musik der vier Absolventen der New Yorker Columbia Elite-Universität geriet auf dem Debütalbum vor zwei Jahren zur eindrucksvollen Demonstration einer neuen Selbstverständlichkeit.
Selbstbewusst und frei vom schlechten Gewissen der üblichen, pädagogischen Weltmusik-Ansätze sind Vampire Weekend durch die Felder der digital globalisierten Musikkultur gewandert und haben vor allem Westafrikanische und Karibische Sounds wie JuJu, Calypso, Highlife, Ska und Afrobeat eingesammelt.
Der souveräne Umgang mit Musiken anderer Kulturkreise folgte der Einsicht, dass Pop zwar immer auch Diebstahl und Ausbeutung bedeutet, aber auch andersrum, also von der ehemaligen Peripherie in Richtung der ehemaligen Zentren betrieben wird - erst Recht seit der Ausbreitung des Internets, wie ein kurzer Blick in die Veröffentlichungen und Rezensionslisten der letzten Jahre beweist.
Insofern konnte man das Vampire Weekend Debüt auch als Verneigung vor der neuen Verfasstheit von Pop hören, als Willkommensgruß an das global vernetzte Zentrum, das die Metropolen zwar nicht vollkommen ersetzt (Live-Faktor, organische Szene, Infrastruktur), aber ihnen dann doch etwas vom Glanz des traditionellen Standortvorteils genommen hat. Damit ist Jahre nach den Clubmusiken mit Genres wie Jungle, Raggaeton, Baile Funk und Artist wie M.I.A. schlussendlich auch die Rockgitarre unter Berücksichtigung von Ahnen wie Paul Simon oder David Byrne in der Jetztzeit angekommen.
Im Referenzsystem Pop haben diese durchs Netz beförderten Verschiebungen auf musikalischer Ebene für Enthierarchisierung gesorgt.
Aber natürlich blendet diese neue, schöne, gerechtere (Musik)Welt auch unbequeme Tatsachen aus. So ist die Voraussetzung der Beteiligung an ihr direkt von so scheinbar nebensächlichen Dingen wie einem Internetzugang abhängig. An dessen Verfügbarkeit materialisieren sich aber erst Recht wieder die alten Herrschaftsverhältnisse und Hierarchien. Wir wissen wenig (und interessieren uns auch kaum dafür?), unter welchen Bedingungen zum Beispiel nigerianische oder brasilianische Musiker arbeiten, wieviel Kontrolle sie tatsächlich über ihre Karriere haben usw.
Natürlich kann man diesbezüglich einer Band wie Vampire Weekend keine Vorwürfe machen. Das wäre absurd. Dennoch lässt sich die Tatsache nicht leugnen, dass sich die vier New Yorker in einem Referenzsystem bewegen, das auch 2010 weder rein virtuell noch voraussetzungsfrei funktioniert.
Zum Album selbst
XL-Recordings/Edel
Auf "Contra" haben Vampire Weekend den Weg ins Sounddickicht fortgesetzt. "Obwohl nicht ganz so offensichtlich, steckt auf dieser Platte viel mehr 'Afrika' drin, als am Vorgänger", so Chris Baio und Christopher Tomson beim FM4-Interview in Berlin.
Tatsächlich erstaunt zunächst die Vielfalt der verwendeten Sounds und ihre Kombination. Warum hier nichts offensichtlich ins Gesicht fährt und vieles erst beim wiederholten Anhören Gestalt annimmt, liegt am Produktionsverständnis von Keyboarder Rostam Batmanglij und Ezra Koenig. Der westafrikanischen Highlife Tradition folgend, "wird keinem Instrument oder Sound Priorität eingeräumt", erklären die beiden immer wieder in Interviews.
Konsequenterweise wurde das Arsenal der Klänge nicht einfach um noch mehr "Exotik" erweitert. Die Welt lässt sich mittlerweile ja auch hervorragend über den Elektrofuhrpark im Wohnzimmer erschließen wie weiter oben bereits erwähnt.
So haben sich auf "Contra" auch jede Menge Dance Beats, Hooks und Bleeps in die Songs eingeschlichen. Würde man Stücke wie "Horchata", "White Sky" oder "California" um die Polyrhythmik auf den Grundbeat reduzieren, bliebe teilweise astreiner Elektro oder Minimal Techno übrig.
Ein anderer Fokus lag auf den Vocal-Parts. Viel deutlicher als am Vorgänger nehmen die Gesangsspuren den Status von Instrumenten ein, überlagern sich und werden via Hip Hop geeichtem AutoTune Verfahren gemorpht ("California English") oder komprimiert. Obwohl viel dezenter angelegt als vergleichsweise bei den Dirty Projectors, lassen die trickreichen Arrangements der Refrains die dafür stets hoch gelobten Stadtkollegen ziemlich alt aussehen.
Ezra Koenig, der hartnäckig behauptet, seine Texte mit Fokus auf die phonetische Wirkung zu schreiben, hat der US-amerikanischen Rezensionsmeute einige richtige Distinktions-Happen (Albumtitel "Contra", Songs wie "Holiday") serviert, die Kritiker und Blogger genüsslich auf Bedeutungszusammenhänge und Befindlichkeitsmarker hin zerkauen.
Mit "Taxi Cab" und "You Think Ur A Contra" können sich Fans auch erstmals auf zwei Balladen freuen, die allerdings ganz und gar nicht "Horchata" mäßig gesüßt sind.
Vampire Weekend ist mit "Contra" das Kunststück gelungen, den musikalischen Ansatz zu vertiefen ohne dabei an Leichtigkeit zu verlieren. Insofern funktioniert das Album - so wie bereits der Vorgänger - auch als rein eskapistischer Luftmatratzen-Soundtrack.
Dass im vermeintlichen Paradies mitunter die Hölle lauert, erschließt sich bei genauerem Hinhören aber ohnehin in Songs wie etwa "Holiday".
Apropos Hölle: Arcade Fire, die über die Sängerin Régine Chassagne Familienverbindungen nach Haiti haben und auch schon vor dem Beben karitativ für die Karibik-Insel tätig waren, haben auf ihrer Website zum Spenden aufgerufen. Nur eine von vielen Möglichkeiten, gerade jetzt, in diesem Moment, etwas Richtiges und Wichtiges zu tun.