Erstellt am: 7. 1. 2010 - 14:00 Uhr
Das russische Phantom
Für gewöhnlich ist es ja so: wenn man die Begriffe "Klassiker" und "russische Literatur" zusammenführt, dann stehen am anderen Ende Tolstoi oder Dostojewski. Aber für alle, die den Wälzer vom "Krieg und Frieden" noch unangetastet im Regal stehen haben, gibt es Hoffnung: denn die russische Literaturgeschichte ist anders als es uns Schullehrer weiß machen wollten, angefüllt mit noch zu entdeckenden Autoren. Leonid Dobytschin ist so ein Phantom: in den Zwanziger und Dreißiger Jahren veröffentlicht er Erzählbände und den Roman "Die Stadt N." Nur wenige hundert Seiten umfasst das Gesamtwerk dieses Unbekannten. Die Wiederentdeckung Dobytschins als Zentralfigur der russischen Literatur geht nur langsam voran: mit "Die Stadt N." liegt das Hauptwerk des Ausnahmeschriftstellers jetzt endlich auch wieder in deutschsprachiger Übersetzung vor.
Was ich in Brjansk mache? Ich schlage sechseinhalb Jahre tot und habe nicht die Hoffnung, dass sich das irgendwann mal ändert!
... schreibt Leonid Dobytschin an seinen Freund und Vertrauten Kornej Cukovskij. Es ist das Jahr 1924: der 30-jährige Sohn aus einer Arztfamilie hat sein Studium längst abgebrochen; arbeitet als Statistiker in der Stadt Brjansk. Er liest kaum mehr: außer den offiziellen Büchern gibt es nichts hier in der Provinz. Das Schreiben geht langsam voran: vielleicht ist der Stillstand auch deshalb allgegenwärtig in Dobytschins Erzählungen und Romanen.
Weihnachten war vorüber geflogen, und in einem Extrablatt teilte uns die Zeitung – Dvina - eines Tages mit, dass Japan uns überfallen hätte. Noch länger wurden nun die Gottesdienste. Kaum war die eine Messe zu Ende – schon begannen die Andachten für die Schenkung des Sieges.
Die Geschichte der Geschichte
Im Roman "Die Stadt N.", der 1936 erscheint, reist Dobytschin zurück in den Ort seiner Kindheit: er wächst in Dvinsk, dem lettischen Dünaburg, in behüteten Verhältnissen auf. In seiner Erinnerung daran entwirft er das historische Panorama einer Stadt, gesehen mit den Augen eines Kindes. Ereignisse wie der russisch-japanische Krieg oder die revolutionäre Volkserhebung von 1905 schlagen sich in der Ich-Erzählung oft mit nur wenigen Worten nieder. Für das erzählende Kind haben sie keine Bedeutung.
Friedenauer Presse
Wir erschienen und man begann uns auszufragen. Da erinnerten wir uns an einiges aus unseren mit der Karmanova. – Das gemeine Volk begehrt auf, - sagten wir. – Maßnahmen werden nur wenige ergriffen.
Historische und erfundene Realität geben sich in "Die Stadt N." die Hand: man liest ein Stakkato aus kurzen Absätzen, angefüllt mit Alltagsbeobachtungen, beiläufig formuliert. Der pointillistische Stil des Romans erinnert nicht von ungefähr an Nikolai Gogols „Die toten Seelen“: beide Texte fassen eine historische Umbruchsperiode in knappen, oft bedeutungslos anmutenden Episoden zusammen. Beide zeigen das mittelständische Milieu als Ort des Stillstands auf. Der Ich-Erzähler aus "Die Stadt N." streut immer wieder Referenzen auf "die toten Seelen" ein: er würzt seinen Alltag mit Gogol.
Ich nahm das Buch und las wie Tschitschikow in der Stadt N. ankam und allen gefiel. Wie sie die Britschka anspannten und sich zu den Gutsbesitzern begaben, und was sie dort aßen.
Das Genie als reaktionäres Monster
Viele Literaturwissenschaftler und Dobytschin-Auskenner haben schon auf die erstaunliche Detailgenauigkeit und insgesamte Exaktheit im Entwurf seines Soziotops und in der Beschreibung der Stadt hingewiesen. Tatsächlich hatte Dünaburg eine ausgesprochen wechselhafte Geschichte und weist am Übergang vom 19. auf das 20. Jahrhundert eine durchmischte Bevölkerungsstruktur verschiedenster Nationalität und Glaubensrichtungen auf. Dobytschin reflektiert diese Multikulturalität in seinem Roman in Nebenbemerkungen, vor allem aber in den Namen, denen er seinen Figuren gibt.
Dobytschin ist ein Ausnahmefall der russischen Literatur: in einer Zeit, wo andere Utopien spinnen, erzählt er vom historischen, vom ewigen Stillstand. 1934 gelingt ihm der Umzug ins geliebte Leningrad: dort hofft er Anschluss zu finden. Aber es ist zu spät: als "Die Stadt N." erscheint, wird er von den Kritikern zerrissen und von den Stalinisten des "Formalismus" bezichtigt. Der Leningrader Schriftstellerverband nennt ihn ein "Monster der reaktionären Art". Der Autor erwidert:
Es tut mir Leid, dass mein Werk als feindselig empfunden wird.
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An diesem Märztag verschwindet Leonid Iwanowitsch Dobytschin spurlos – und wird schnell vergessen. Erst während der Perestroika entdeckt man seine Texte neu: in ihnen eingeschlossen sind die Geister der Vergangenheit, formuliert vom schönsten Phantom der Weltliteratur.