Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Song Zum Sonntag: Tocotronic"

Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

3. 1. 2010 - 15:01

Song Zum Sonntag: Tocotronic

Der Kategorische Imperativ: Macht es nicht selbst

Was du auch machst
Mach es nicht selbst
Auch wenn du dir den Weg verstellst

Was du auch machst
Sei bitte schlau
Meide die Marke Eigenbau

Heim und Netz
Werkerei
Stehlen dir deine schöne Zeit

Wer zu viel selber macht
Wird schließlich dumm
Ausgenommen Selbstbefriedigung

Was du auch machst
Mach es nicht selbst
Ob du versendest oder bestellst

Was du auch machst
Mach es nicht selbst
Auch wenn du dir darin gefällst

Wer zu viel selber macht
der macht sich krumm
Ausgenommen Selbstauslöschung

Was du auch machst
Mach es nicht selbst
Ob du verschwindest oder verwelkst

Was ihr auch macht
Macht es nicht selbst
Ob ihr verblendet oder erhellt

Was ihr auch macht
Macht es nicht selbst

Sofort fallen einem mehrere Verweise zur neuen Tocotronic Single ein: Das D.I.Y. ("do it yourself") des Punk, das Selbstverantwortungsdiktat an die "Ich- AG" des modernen Kapitalismus, die Selbstwerbung und vereinsamende Wichtigmacherei des Web 2.0, die romantisch linke Sehnsucht nach Kleingartentum, Subsistenz und Selbstversorgung als Antwort auf Kapitalismus und die verwirrende Postmoderne, die Verteufelung der Selbstbefriedigung durch den sadistischen Pädagogen und Arzt Schreber, der Kategorische Imperativ von Kant und schließlich der riesige Markt an Heimwerkerläden, Heimtrainern, Heimsprachkursen, Heimnähkursen, Heimvideoschnittprogrammen, Selbstmotivationsvideos, Selbstschminkvideos, Selbstmanagementcoachings, Bewerbungsinstruktionen, Fernstudien und Eigenbau-Sets.

Die Band Tocotronic

Tocotronic

Dagegen ein klares Statement: Selbermachen macht dumm, erschöpft und versucht, vor leeren Versprechungen zu bestehen, die Laien nie erfüllen können. Also lasst es.

Und ausgerechnet die beiden von der Gesellschaft traditionell am meisten verfemten Eigenaktivitäten sind die Häufigsten, zugleich die Einfachsten und Naheliegendsten: die Masturbation und der Selbstmord. Sie nimmt auch Dirk von Lowtzow nicht ganz unironisch ausdrücklich aus seiner Warnung heraus.

Schon lange sind die Texte von Tocotronic nicht mehr die nervös-überdrüssigen Teenagelaunigkeiten, die zu ihrem Trainingsjacken-Image in den Neunzigern gepasst hatten. Wie Blumfeld und die Sterne sind auch sie ein Beweis dafür, dass die übrig gebliebenen Hamburger Schule-Bands durch den Erwachsenwerdungsprozess, den alle Kreaturen durchlaufen, wieder erwarten immer besser geworden sind. Distelmeyer und Lowtzow reifen grandios. Tocotronic werden gerade nicht weniger zornig oder unkonkreter, wie man es an ihrem Alter oder ihrer Garderobe (weiße Hemden, Schalkragen, Strickjacken, Kunstkritiker-Pfeifenraucherstil) vorschnell abzulesen zu glauben konnte: Einige von Tocotronics treffendsten Wirklichkeitsbeschreibungen ("Hey, Freaks", "Pure Vernunft darf niemals siegen","Kapitulation", "Aber hier Leben, Nein Danke", "Gegen den Strich", wenn auch nicht ihre allerbeste, das große "Let there be Rock") stammen aus dem Spätwerk der Band.

Und zur Garderobe: Im Video zu "Mach es nicht selbst" posieren die Hamburger als Rocker mit engen Lederjacken und Standschlagzeug im Schwarzlicht, während sich zwei bunte, lebensgroße Baumarktmaskottchen bei einer Eigenaktivität selber in Brand setzen.

cover

tocotronic

Der Song zum Sonntag ist eine Kooperation zwischen FM4 und der Presse am Sonntag und erscheint hier wie dort, wo sich der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar der Kolumne annimmt.

Die neue Tocotronic CD wird "Schall und Wahn" heißen. Sie erscheint am 22. Januar bei Rock-O-Tronic/Vertigo/Universal und ist laut Band " ... unsere bisher heftigste Propagierung von Zwischenstufen, Ich-Auflösung und Vielheit. Das Album beschreibt in zwölf Kapiteln eine wahrhaft infernalische Welt, die von Liebe und Verbrechen beherrscht wird, vom Guten wie dem Bösen. Ist es ein Komödie? Ist es eine Tragödie? Ist es nur ein Fiebertraum?" Die dazugehörige Tour führt die Band ab 27.3. zu einigen Terminen nach Österreich.