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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

5. 1. 2010 - 10:43

Playing the Routine

Spielen als Alltagsflucht, Alltag im Spiel: "Every Day the Same Dream" stellt die Grundsatzfrage

Ich habe 2009 geschätzte 28 Drachen getötet, bin etwa 4.520 Kilometer durch spektakuläre Landschaften gerast, habe so circa 3.467 außerirdische, robotische oder terroristische Bösewichte im Kampf um Leben und Tod bezwungen, mehrere Prinzessinnen gerettet und, über den Daumen gepeilt, etwa 37 größere militärische Schlachten als Feldherr gemeistert. Nebenbei bin ich ungezähltem Kleinvieh auf den Kopf gehüpft und habe locker dutzende Male gleich die ganze Welt gerettet. Alles in allem: Alltag, Routine, business as usual in der virtuellen Traummaschine der Computerspielewelt.

Spielemotor Langeweile

Jim Rossignols Buch "This Gaming Life. Travels in Three Cities" ist eine lesenswerte, hintergründig-humorvolle Reise durch die Welt des Spielens. Die titelgebenden "Three Cities" sind übrigens London, Reykjavik und Seoul.

"This Gaming Life", Cover

University of Michigan Press/Jim Rossignol

Jim Rossignol, britischer Autor und Spielejournalist, zitiert in seinem endlich auch in Europa, aber immer noch nur auf Englisch erhältlichen, autobiografischen Buch "This Gaming Life" eine düstere Zukunftsversion des amerikanischen SF-Autors J.G. Ballard: "I would sum up my fear about the future in one word: boring. And that's my one fear: that everything has happened; nothing exciting or new or interesting is ever going to happen again ... The future is just going to be a vast, conforming suburb of the soul." Rossignol zufolge ist just das der Punkt, der den unterschätzten gesellschaftlichen Wert des elektronischen Spielens ausmacht: Videospiele bieten eine faszinierende, vielfältige Landschaft von Erfahrungsmöglichkeiten, die es zuvor nie gab: "Perhaps we have boredom to thank for that."

Die Zivilisationskrankheit Langeweile ist demzufolge also der Motor, der die immer größer werdende Industrie antreibt: die Flucht aus dem Alltag. Man muss sich nur die schiere Bandbreite des Mediums ansehen, um zu erkennen, wie weit die Spielkultur im Kampf gegen dieses Grundgefühl eines von Routine und Gleichschaltung gekennzeichneten (Alltags-)Lebens ausholt. Dabei erzeugt sie aber wiederum Konsumprodukte, die in ihrem Ausdruck immer routinierter und austauschbarer werden.

Spielealltag, Alltagsspiele

Ein Game Diary der anderen Art: Alice und Kev sind obdachlos in "The Sims 3".

Obdachlos in "The Sims"

EA Games

Zu oft findet man sich im Spiel deshalb in einer ebenso öden Routine wieder wie im "richtigen" Leben, dem man ja eigentlich entfliehen wollte. Der Levelgrind in "World of Warcraft", die tägliche Bürozeitvernichtung in "Solitär", die Tabellenkalkulation im "Fußball Manager": Die Alltagsflucht wird selbst schnell zum Alltag, mit all seinen Vorzügen und Nachteilen.

Und natürlich ist dann da auch noch die erfolgreichste Computerspielserie der Welt, "The Sims", die dieses Verhältnis noch einmal umdreht, weil just das "normale" Alltagsleben Thema ist. Die Optionen beschränken sich zwar, den Spielmechanismen folgend, auf Karriere, Konsum und Kinderkriegen, lassen sich aber immerhin auch kreativ missbrauchen: Obdachlos und asozial in der Häuslbaueridylle der "Sims" zu sein, ist auf jeden Fall ein witziger Kommentar auf den Vorstadtkonformismus und -ehrgeiz, der zur "richtigen" Spielweise dazugehört.

Escaping the suburb of the soul

"Every Day the Same Dream" von dem auf Satire spezialisierten Indie-Entwickler Molleindustria zeigt das richtige Leben im Falschen. Unbedingt selbst ausprobieren!

Every Day the Same Dream

Paolo Pedercini

Der aktuellste Titel, der sich nahtlos in diese Reihe stellt, ist Paolo Pedercinis für das Experimental Gameplay Project in einer Woche erstelltes "Every Day the Same Dream". In knappen 15 Minuten im Browser bis zum Ende spielbar, sorgt die kurze Meditation über die "suburb of the soul" des Alltags online für einige Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten. Das Thema ist die Gefangenheit in einer Alltagsmaschinerie, oder vielmehr: die scheinbare Gefangenheit. "Every Day the Same Dream" kann als interaktives Stück etwas, was andere Medien nicht können: Es belässt die Entscheidung über das Handeln und die letztliche Aussage dem Spieler. Es wird aber auf jeden Fall dem Motto seines Entwicklerteams Molleindustria gerecht, "Radical games against the dictatorship of entertainment" zu produzieren.

Molleindustria/Paolo Pedercini

In stylischem Schwarz-Weiß gehalten, zeigt "Every Day the Same Dream" auf den ersten Blick die Klischeehölle des Vorstadtlebens: 9-to-5-job, der Mensch als kleines Rädchen in der alles verschlingenden Monotonie des Alltags. Die früheren Spiele des Games-Studios Molleindustria, etwa "McDonald's video game", "Faith Fighter" und "Oiligarchy", wechselten zwischen "Serious Games" und kalkulierter Provokation; "Every Day the Same Dream", per Eigenbeschreibung "a short, existentialist game about the refusal of labour", ist denn auch weniger Spiel als interaktiver Selbstversuch.

Man kann nicht zu viel über "Every Day the Same Dream" sprechen, ohne die Erfahrung zu beeinflussen, deshalb an dieser Stelle nur so viel: Ob am Ende die positive Moral von "American Beauty" oder die Düsterkeit etwa der Weltsicht von Michel Houellebecq überwiegt, bleibt - wie bei jedem Kunstwerk - dem Betrachter überlassen. Denn irgendwo zwischen Alltagsflucht und Spielealltag, so will uns vielleicht auch "Everyday the Same Dream" klarmachen, wartet dann ja auch noch das richtige Leben.