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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

30. 12. 2009 - 21:52

Das Wunder von Manhattan

Arcade Fire - "Funeral" ist Platz Eins der FM4 Jahrzehnte-Charts. Eine betörende und wahrhaftige Platte.

Merge Records

Das Wunder von Manhattan geht so: Lars, der Kellner des stark frequentierten Cafes im East Village, schiebt die Arcade-Fire-CD in den Player der Hausanlage. Sobald die ersten Klänge von "Neighborhood #1", dem Opener von "Funeral", erklingen, eine zaghafte Klaviermelodie zunehmend Konturen gewinnt und sich gegen den sie umgebenden Streichernebel absetzt, heben sich Köpfe und werden Zeitschriften gesenkt. Blicke wandern von Buchstabenreihen in den Raum oder raus auf die First Avenue. Andere kreuzen sich kurz und malen ein Lächeln in die Gesichter der sich in diesem Moment als Gemeinschaft begreifenden Gäste.

Schon bald stehen die einen beim Kellner und erkundigen sich über die Urheberschaft dieser wunderbaren Musik, während die anderen über die Tische hinweg Fragen stellen und dabei kichern, als würden sie in allzu intimen Geheimnissen rühren. Wie wunderbar! Ist das neu oder alt? Sind das nun die Talking Heads, Pulp, David Bowie oder wer oder was?

Spätestens bei Song Nr. 3, "Neighborhood #3 (Power Cut)", brummt das Cafe wie eine Hafenkneipe am Seaport. Wer um das Inseldasein in den stets als öffentliche Wohnzimmer verklärten Künstlerkaschemmen dieser Welt Bescheid weiß, musste in diesem Augenblick der Verbrüderung gerührt sein. Das Szenario erinnerte an die Schlussszene eines dieser schamlos menschelnden Episodenfilmchen, in denen Hugh Grant ein Dauerabo auf die Hauptrolle zu haben scheint. Plötzlich trittt ein untersetzter Glatzkopf in das Cafe. Seine Augen leuchten. "Who´s that?", fragt er mit britischem Akzent. Es war nicht Nick Hornby.

Diese Geschichte, sie stammt aus dem Jahr 2004. Ich habe sie zum Erscheinen von Funeral geschrieben, dem Debütalbum von Arcade Fire. Es war meine bis dahin erste Story, die im gesamten deutschen Sprachraum publiziert worden ist. Spiegel, Spex, FM4 – alle Medien waren hungrig nach dieser kanadischen Band aus Montreal.

Die Band Arcade Fire

Christian Lehner

Arcade Fire @ Bowery Ballroom New York, Herbst 2004

Das Szenario von damals in diesem Künstler-Cafe im East Village, dieses kleine Wunder von Manhattan, sollte sich noch sehr oft wiederholen. Wo immer ich mit der Vorab Promo-CD von "Funeral" aufgetaucht bin die gleiche Reaktion: beseelte Blicke, Fragen nach den Urhebern dieser wunderbaren Musik, kollektives Tanzen mit gegen den Himmel gestreckten Händen.

"Funeral" ist ein großartiges Album über die Liebe und Freundschaft. Musikalisch eine Platte wie aus einem Guss. Betörend vom Intro bis zur letzten Note. Doch wie alle großen Alben weiß es auch etwas über die Zeit zu erzählen, in der es entstanden ist.

"Funeral" ist 2004 erschienen. George W. Bush und seine erzkonservative Regierung standen kurz vor der Wiederwahl. Die Post-9/11-Dekade war geprägt von Terrorismus, Einschränkung der Freiheitsrechte, moralischer und religiöser Bigotterie. Und dann plötzlich dieses Pathos der kleinen Dinge. Eine Platte, die ganz unten ansetzte, weil das Oben versagte. "Wenn unsere Gemeinden in Eis und Schnee ersticken, dann grabe ich einfach einen Tunnel von meinem Fenster zu Deinem" – lauten die ersten Zeilen des Albums. "Funeral" war kein Trauermarsch der Hoffnung, sondern das Licht am Ende des Tunnels.

Am Ende des Jahrzehnts haben die USA den ersten schwarzen Präsidenten und führen noch immer Krieg. Die Weltwirtschaft kolabierte und die Digitalisierung hat die Popwelt verändert. All die damit verbundenen Sinnzusammenhänge sind förmlich implodiert – inklusive des Stargedankens. Und trotzdem wird ein Song wie "Power Cut" in den USA noch heute in Baseball Arenen vor Spielbeginn gespielt wie sonst nur Bruce Springsteen. Die Welt, sie ist eine andere geworden.

arcade fire auf der bühne

Christian Lehner

Arcade Fire @ Bowery Ballroom New York, Herbst 2004

Und plötzlich ist er omnipräsent, dieser schwammige Begriff "Indie". Heute zählt dieser einstige Nischenmarkt zum drittstärksten Segment einer freilich niedergehenden Popindurstrie. Arcade Fire haben daran nicht unwesentlichen Anteil, genau so wie die Strokes, Radiohead, Animal Collective, TV On The Radio und andere. Drehte sich im Kern der 90er Jahre alles um den DJ, um Techno als dem Pop übergeordnetes Prinzip (allerdings mit Grunge und Britop an der Seite), waren plötzlich wieder ganze Band-Outfits gefragt. Der Begriff "Retro" wurde gänzlich überflüssig. Pop war nicht mehr gefangen im Zeitenlauf. In den 00ern war wirklich alles möglich, aber dadurch auch ein bisserl egal. Mit wenigen Ausnahmen. Eine davon ist "Funeral". Diese wahrhaftige Platte des Jahrzehnts wird bleiben.

Für mich ist das Wunder von Manhattan nicht ohne Folgen geblieben – beruflich wie schon eingangs erwähnt aber auch privat. "Funeral" ist auch die Platte meiner/unserer großen Liebe - trotz des morbiden Titels. Mittlerweile sind wir das zweite Jahr verheiratet. Und manchmal frag ich mich, wieviele Herzen da wohl noch gemeinsam schneller pochen, wenn sie Songs wie "Neighborhood Prt. 1 (Tunnels)" oder "The Crown of Love" hören.