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Pamela Rußmann

Brennend leben: Das Große im Kleinen erkennen

29. 12. 2009 - 12:02

Mit den Zeitdieben um die Wette laufen

Ausgaben vs. Einnahmen: Das Leben, eine in Schuhschachteln gezüchtete Zettelwirtschaft.

Es gibt ja nichts auf der Welt, was es nicht gibt. Banaler Spruch, der sich immer wieder aufs Neue bewahrheitet. Dementsprechend vorgewarnt tauche ich auch nur für etwa drei Sekunden erstaunt aus der Lethargie zwischen den Jahren auf, als ein handgeschriebenes, rosapapierenes Ankündigungsplakat für ein Social Event einer rustikalen Schankstube meinen Weg kreuzt. "Feiern Sie Silvester schon einen Tag früher!", heißt es da krakelig. Wenn´s Nachrichten fünf Minuten früher gibt, Schokonikoläuse im September in den Supermarktregalen lauern, wieso nicht auch einen Jahreswechsel am Tag vor dem Jahreswechsel. Das gelernte Gerüst an Traditionen, tha!, wofür denn, nicht mit uns.

Das werte Finanzamt hingegen, das lässt sich von kreativen Terminverschiebungen nicht so leicht beeindrucken, da ist dann ein 1. Jänner wirklich ein 1. Jänner, aus die Maus. Das Verschieben neigt sich dem natürlichen Ende zu, daher werden nun die gesammelten Zahlen, Daten und Fakten in Form von Rechnungen, Quittungen und Belegen in privat und beruflich geteilt. Mein Leben, eine in unglamourösen Schuhschachteln gezüchtete Zettelwirtschaft, die in Tagen wie diesen das Dekoszenario im Haushalt bildet. Vom geschmeidigen Advent über den schmelzbutterschweren Weihnachtsbaum direkt zu den schlanken Excel-Dateien.

Das Jahr vor dem Jahr

Ich blättere mich Monat für Monat durch meine Ausgaben des Jahres 2008, ordne Quittungen, Eintrittskarten und Tickets nach Datum und Themengebiet. Langsam taucht aus der Nebelwand der gedankenverlorenen Jahre bruchstückhaft ein Winter auf, in dem ich meinte, mein Herz würde nie wieder einen Frühling erleben, weil es zerschmettert vor mir lag, damals, in den Jänner-Tagen 2008. Und jetzt, kaum zwei Jahre später, muss ich lachen, wenn ich den Herzensbrecher sehe. Die Zeit heilt tatsächlich alle Wunden, scheint´s. Die Zeitdiebe haben den Schmerz mitgenommen.

Ich versuche mich zu erinnern, mit wem ich in den Woody Allen-Film gegangen bin (könnte C. gewesen sein, aber auch M.), ich frage mich, wieso ich dieses eine Buch gleich drei Mal gekauft habe laut Rechnung (dafür gibt es keine Erklärung von dieser Welt). Und mit wem war ich in dem Lokal essen und wieso ist die Rechnung so hoch ausgefallen? Ach ja, genau, wir haben eine Schwangerschaft gefeiert, ein lauer Septemberabend war das, wir saßen lange im Schanigarten. Und noch in derselben Nacht, in der sich das eine Paar über den neuen Lebensabschnitt freute, trudelte per SMS die Nachricht von der Trennung eines anderen befreundeten Paares ein. Apropos elektronische Mitteilungen: Im vorvergangenen Jahr hatte ich weder bei Myspace noch bei Facebook einen Account. Mittlerweile habe ich den einen eröffnet und wieder gelöscht, der andere gehört zur täglichen Nahrungsaufnahme dazu, hat keine andere Kommunikations- oder Wahrnehmungsform ersetzt, sondern ist ein unspektakulärer Bonus. Oder sagen wir: ein Bonbon.

Feuerwerk

http://www.flickr.com/photos/bobjagendorf

Während ich mechanisch klaube, wandern meine Gedanken unwillkürlich über die persönlichen Entwicklungen des Jahres 2008. Ich erforsche meinen Zufriedenheitsgrad. Ich versuche zu evaluieren, ob die Menschen und Dinge, die mich 2008 geprägt haben, auch am heutigen Tage, am Ende des Jahres 2009, noch jene Rolle von damals spielen. Wem bin ich näher, von wem bin ich weiter weg gerückt und warum. Ich spiele Situationen, Gespräche, Ereignisse im Kopf nach und erspüre, ob und wie ich mich seither verändert habe. Würde ich wieder so handeln? Würde ich wieder so reagieren?

Hand in Hand mit der Rückschau läuft erschreckend und erschreckend banal die Erkenntnis, dass der Verlauf eines Jahres mit zunehmendem Alter gefühlt dem eines Monats von vor zwanzig Jahren entspricht. Auch hier sprechen die Zahlen eine klare Sprache, die eingemenschlicht dann zu Nostalgiestürmen wird: ein zehntel Zeit des Lebens ist halt mehr als ein dreißigstel. Wie versessen war ich als Kind auf die Jahresrückblicksendungen vor Silvester! Das war ein verzauberndes Panoramabild von der Welt, unendlich groß, unendlich fremd und unendlich weit kam mir das alles vor. Gierig aufgesaugt habe ich die konzentrierten Meldungen von Hochzeiten, Todesfällen, kriegerischen Auseinandersetzungen, sportlichen Leistungen, Rekorden, usw. Dass die Selektion dessen, was in mein Kinderwohnzimmer hineingeschalten wurde, auch nur ein Mensch (bzw. eine Handvoll Menschen) traf und kein allwissendes Überwesen, dass es auch noch andere Lesarten und Interpretationen der Welt, ihrer Menschen und ihrer Zustände gibt, das habe ich erst später verstanden und haben dem wissensdurstigen Kindheitserlebnis retrospektiv einen Dämpfer gegeben.

Dem Jahreswechsel wird sowieso viel zu viel Bedeutung beigemessen. Manche tun grad so, als würden sie am 31.12. über den Rand dieser Welt stürzen und am Neujahrstag in einer neuen aufschlagen. So gesehen befinden sich die cleveren Leutchens, die schon am 30. Dezember den Rutsch ins nächste Jahr zelebrieren, 24 Stunden länger im freien Fall. So oder so: Aufschlagen werden sie am Ende alle. Mit oder ohne Aua.