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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

28. 12. 2009 - 13:32

Rewind 09 - The Last of Beating Hearts

Die Nullerjahre als blutiges Vorspiel auf das finale Blasenplatzen. Samt angehängter Playlist für das letzte Heartbeat des Jahres.

Am Ende hab ich mich einfach nicht entscheiden können, ob das nun ein Jahresrückblick oder ein Jahrzehnterückblick werden würde oder weder das eine noch das andere. Zumal das Grundthema in jedem Fall ja weniger ein lineares denn ein zyklisches zu sein scheint. Andere mögen von Meerschweinchen reden, ich assoziiere dagegen eher das Murmeltier.

Mitte März 2000 waren wir direkt aus einem artifiziell herbei gewünschten, nie ganz überzeugten Millenniumstaumel in den gewaltigen Seifenlaugentümpel gefallen, den die geplatzte Dot.com-Blase hinterlassen hatte. Drüben in Amerika steckten enttäuschte InvestorInnen den ganzen Rest ihres Ersparten in ehrlichen Ziegel und Mörtel und erbauten daraus eine Immobilienblase, die sich immerhin acht Jahre lang mästen lassen sollte.

Bei uns im Vereinten Königreich hatten wir damit ja schon ein bisschen früher angefangen. Im Derivieren fiktiver Moneten aus schummrigen Hauspreisfantasien waren wir vielleicht nicht ganz so kreativ, aber was das Shoppen als oberste BürgerInnenpflicht und das Errichten eines neuen Wohlstands aus Kreditkartenhäusern anging, waren wir hier ganz vorn mit dabei.

Bubble to bubble

Dass der 11. September 2001 überall in der westlichen Welt aus Zweifeln Frevel machte, mag im Erfolg der Kollektivhypnose mit eine Rolle gespielt haben, aber auch nicht so sehr, wie sich die ZweiflerInnen gern vormachen würden. Ich schließe mich da selbst mit ein, siehe meinen gerade ausgegrabenen Jahresrückblick 2001 (Obwohl, hin und wieder bin ich ja auch nicht so falsch gelegen, wie etwa beim Jahresrückblick 2002, der sich über weite Strecken täuschend ähnlich liest wie die aktuellen Zeugenaussagen diverser damals loyal der Logik der Kriegsmaschine verpflichteter Beamter im laufenden Iraq War Inquiry).

Am Ende eines dermaßen verbockten Jahrzehnts sollte eigentlich der mit einem von der Verblendung erlösten, ernüchterten Kopfschütteln hingeworfene Satz kommen: Wie konnten sie/wir nur?

Aber wie gesagt, das Zyklische kennt keine Auflösung, und ein paar Kriege und Krisen später sind wir in vielerlei Hinsicht scheinbar jetzt schon wieder dort, wo wir waren, nämlich in der nächsten Blase, in die wir diesmal gleich direkt Billionen öffentlicher Gelder gepumpt haben. Ich sage „scheinbar“, weil sich beim vielen Zwirbeln längst das Schräubchen oben am Zirkel gelöst und die Kreisbewegung in ihre exzessive Schwester, die Spirale, verwandelt hat.

Man verzeihe die krude Gelegenheitsgeometrie, aber gerade nach den Glaubensgrundsätzen der Marktideologie kann das Anzapfen von Staatsgeldern nur das letzte bzw. das erste jenseitige Mittel zur Aufrechterhaltung des Finanzsystems gewesen sein, oder? Beim nächsten Mal kracht's dann ganz unten im Fundament.

Kommt der Freeconomics-Meltdown?

Gleiches gilt wohl auch für eingangs erwähnte dot.com-Blase, deren zweikommanullte Inkarnation gerade beflügelt von ihren Freeconomics-Fantasien wie Wylie Coyote in vollem Lauf über die Klippen sprintet.

Inserat für iPhone-Apps

Robert Rotifer

In den Wochen vor Weihnachten fand ich heuer fast täglich dieselbe Werbung für iPhone-Apps auf der Rückseite meiner Zeitung. Die meisten davon kosteten ein paar Pfund, von Weihnachtskarten und Weihnachtsliedern über den Michelin-Führer und Jamie Olivers Kochrezepte bis zu einer Vorschau auf die Fußball-WM, lauter Dienste, die Geld kosten und vergolten sein wollen.

Umsonst waren dagegen das Fernsehprogramm und natürlich das allerletzte, wofür irgendjemand überhaupt noch bezahlen will, nämlich Musik, in diesem Fall via last.fm. Wir erinnern uns an den Aufstand, als last.fm in Territorien, wo sich der Verkauf von Leistungen und Kundendaten an Werbung und Marketing nicht rechnet, Gebühren entrichten wollte. Siehe Daddy D und die Antwort, beide bereits historisch, schließlich sollte 2009 sich als das Jahr erweisen, in dem der wie alle Medienkonzerne ins Wanken geratene Eigentümer CBS schließlich mangels Einnahmen die Geduld verlor und das Gründungsteam von last.fm in die Wüste schickte.

Wie lange sich indessen drüben bei Myspace Rupert Murdoch noch das Verpuffen seiner Investitionen ins Social Network-Phänomen ansieht, wird sich eher früher als später weisen. Und wen die Versuche des alten Herren, seine News kostenpflichtig zu machen, nur ein müdes Augenrollen kosten, der/die mag bedenken, dass selbst Google vorhat, sein Sorgenkind Youtube mit Pay-per-view-Diensten aus der ewigen Verlustfalle zu zerren. Dass selbst die erfolgreichsten Produkte einer nun schon einige Zeit andauerenden Innovationsphase sich immer noch nicht rechnen, kann im kommenden Jahrzehnt nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Das Problem an der dot.com-Bubble war bekanntlich, dass die Wachstum-vor-Profit-Parolen auf Dauer nicht über die fehlenden Geschäftsmodelle hinwegtrösten konnten.
Ein im Web 2.0 ähnlich gelagertes Problem, das allerdings nur schwer zu kommunizieren ist, nicht zuletzt, weil wir das Gefühl haben, den Inhalt selbst herzustellen und dabei nicht mehr als ein bisschen Akku-Strom zu investieren.

Tatsächlich verbraucht der Upload eines einzigen Fotos auf Facebook (zufolge einer BBC-Radio-Doku aus der hervorragenden Reihe Costing The Earth) auf seinem Weg zum Server und wieder zurück soviel Energie wie eine herkömmliche 100W-Glühbirne, die eine halbe Stunde lang brennt. Ein durchschnittlicher Second Life-Avatar konsumiert ungefähr soviel Elektrizität wie einE echte BrasilianerIn. Der Betrieb der Computer Großbritanniens macht mittlerweile bereits 2% des CO2-Ausstoßes aus und schickt sich gerade an, die Luftfahrt anteilsmäßig zu überholen. Allein die künstlich gekühlten Server-Farmen benötigen derart viel Energie, dass die Londoner City bereits am äußersten Rand der Kapazität des Stromnetzes operiert.

„Many internet companies are struggling to manage the costs of delivering billions of web pages, videos and files online – in a perfect storm that could even threaten the future of the internet itself,“ hieß es im Mai in diesem Augen öffnenden Artikel im Guardian, der seinerseits die beste britische Zeitungs-Website betreibt und damit mittlerweile akut existenzbedrohende Verluste einfährt.

Und wo wir vorhin schon bei den Avataren waren: Es lässt sich ja leicht zynisch sein über die esoterische Vision einer blauhäutigen Herrenrasse edler Wilder und die vielen starken Frauen, die letztendlich doch als Sekundantinnen dem fehlbaren Helden zum Triumph verhelfen, aber was James Cameron entlang dieser Archetypen (strengere Gemüter sagen Klischees dazu) an Metaphern zur Zeit ablässt, ist durchaus gewagt: Von den Bildern des stürzenden Mothertree, in denen sich 9/11 mit dem Shock & Awe-Bombardement von Baghdad vereint, über die auf dieser Mainstream-Ebene noch nie da gewesene, unwidersprochene Darstellung der US-Armee als Macht des Bösen, und den Aufruf zur Identifikation mit der fundamentalistischen Guerilla-Bewegung bis zur misanthropischen Schlussmoral (Wall-E ist da nicht so weit gegangen) - ein eigentlich ein perfektes Psychogramm dieser völlig irrsinnigen Nullerjahre.

Mehr Themen zugleich werden höchstens noch ab 22 Uhr auf den Frequenzen des Muttersenders im heutigen zweiten Teil (den ersten habt ihr schon versäumt) meines Rückblicks auf meine heurigen Heartbeat-Ausgaben angesprochen:

Jack White, jetzt wohnhaft in Nashville, weint Tränen über den Tod der Industriestadt Detroit, Cocos Lovers werfen sich in Deal in den Kanal, Billy Childish erklärt, warum die Engländer ihn auch mit 50 noch nicht wollen, der Nino aus Wien und mob albern über Albern (sorry), Jamie T will nicht La Roux werden, Cornershop wagen sich endlich aus der Deckung (i.e. kriechen aus dem Bett), She Keeps Bees klären bandinterne Beziehungsprobleme in Songform, Massive Attack gehen nach Amerika und finden dabei via Tunde Adebimpe Zugang zu Afrika und Woods erklären mir, warum sie zufrieden sind, wenn ihre Band wie ihr liebstes Mixtape klingt.

Playlistmäßig äußert sich das folgendermaßen:

artist song  
Elvis Perkins Hey  
Sparrow and the Workshop Devil Song  
Dinosaur Jr Imagination Blind  
The Dead Weather Will There Be Enough Water  
Edward Sharpe & The Magnetic Zeros Janglin'  
Cocos Lovers Time to Stand  
Wild Beasts Two Dancers  
Billy Childish & The MBEs Birthday Boy  
Jay Reatard I'm Watching You  
Ja Panik Blue Eyes  
Songs of Claire Madison The Line of Beauty and Grace  
Ernst Molden Willi Resetarits Walther Soyka & Hannes Wirth Da Wind  
Der Nino aus Wien Weit Weit Weit  
Mob Zusammen weg von hier  
Paper Bird A Lie is a Lie  
Jamie T On The Green  
The XX VCR  
Cornershop The Roll-off Characteristics of History in the Making  
Let's Wrestle Diana's Hair  
She Keeps Bees Focus  
Andrew Bird Fitz and the Dizzy Spells  
Rain Machine Driftwood Heart  
Massive Attack Pray For Rain  
Hidden Cameras Colour of a Man  
Woods To Clean  
Yo La Tengo Avalon or Someone Very Similar  
Lou Barlow Goodnight Unknown  

Prosit und so.

PS: Diese Sendung wurde bereits vor dem Tod von Vic Chesnutt produziert und enthält daher keinen Nachruf auf ihn.
All jene, die seit Jahrzehnten jede Reform des amerikanischen Gesundheitsunwesens blockieren, haben ihn und so viele, die sich in derselben Lage wiedergefunden haben, am Gewissen.