Erstellt am: 23. 12. 2009 - 10:32 Uhr
Kein Schnee am South Terminal
Es ist ein eigenartiges Gefühl, ein Haus zu betreten, das man gerade erst für seinen Urlaub verlassen hat und all die Dinge vor sich zu sehen, mit denen man für die nächsten zwei Wochen abgeschlossen hatte. Ist zwar durchaus nett hier, aber sitzen sollte ich eigentlich woanders, nämlich in Wien.
Andererseits ist es schon alleine von der Zeichenzahl her meine professionelle Verantwortung als Journalist, hier mehr zu sagen als in meiner Statusmitteilung (ein Wort, an das ich mich nie gewöhnen werden kann - wer macht eigentlich diese Übersetzungen?). Aber auf was außer Selbstironie kann man schon zurückgreifen, wenn man Tags zuvor gemeinsam mit der Kernfamilie jenseits der sieben Stunden in der Gastronomie des South Terminal zu Gatwick verbracht und seine Chancen auf das Einschlagen des Luftwegs verpuffen gesehen hat?
Die britische Liebe zur Chaosfantasie
Nein, ich verspreche, es kommt noch mehr als das übliche Beklagen der angelsächsischen Unfähigkeit, mit winterlichen Wetterphänomenen fertig zu werden. Das wissen die Briten schon selber gut genug und weisen eh pausenlos darauf hin. Allerdings tun sie es mit derselben zermürbenden Beharrlichkeit, die der klassischen Antwortphrase weniger luzider britischer MusikerInnen auf unvorhergesehene Fragen innewohnt:
„I've never thought of it like that.“
Das bedeutet immer auch, dass sie keinerlei Versuchung verspüren, jenen bisher nicht gehegten Gedanken einmal probeweise durch den Arbeitsspeicher rattern zu lassen. Sie haben nie darüber nachgedacht, und dabei bleibt es auch. Sie werden nicht, weil sie nicht haben.
So ist das auch bei den Briten mit den Winterreifen.
Ist es vielleicht sogar Geschäftsstrategie, seine Passagiere unter Bedienung der lausigsten Ausreden so lange wie möglich in der Abflughalle einzupferchen, wo sie nichts anderes tun können als pausenlos zu konsumieren?
Ihre Augen glänzen leer wie Murmeln, sobald ich ihnen von den Vorzügen dieser Erfindung erzähle, und jetzt, wo ich die schiere Muffigkeit meiner Mission in nüchterner Verdana vor mir sehe, muss ich zugeben, dass ich da auch durchaus mitfühlen kann.
Oder zumindest könnte, wenn dieselben Briten nicht gleichzeitig mit mindestens ebenbürtig ermüdender Vehemenz die vermeintlich unbezwingbare Schicksalsmacht des Wetters als Ausrede zum Ausleben ihrer Chaosfantasien beschwören würden. Endlos.
Während also der BBC-Korrespondent beim Channel Tunnel in Folkestone bei Sonnenschein vor grünen Hügeln steht, stellt die kreative Grafikabteilung ihn in einen grauen Rahmen aus dichtem Schneetreiben mit in rot und weiß drunter vorbei ziehenden Rolling News-Slogans wie „Severe Weather“ und „Snow Chaos“.

Gatwick Airport Website
Das Panoramafenster im Café Rouge log indessen nicht, als wir hinaus auf die bewegungslose, gesperrte Start- und Landebahn schauten, während uns die Dame im Lautsprecher weismachen wollte, dass gerade hart an deren Räumung gearbeitet werde.
Dann und wann waren da unten ein paar verstreute Vehikel mit lustigen Lichtern am Dach zu sehen, aber ansonsten präsentierte sich vor uns das klassisch britische Bild der geschäftigen Untätigkeit in reflektierenden Jacken und Funkgeräten, über welche die ganze lange fragmentierte Kompetenzkette von Vertragspartner zu Outsourcing-Vertragspartner von unten nach oben und wieder zurück nach unten durchlaufen wird, bis schließlich endlich nach Klärung aller Kosten- und Zuständigkeitsfragen der letze Mitarbeiter des untersten Subcontractors zum Ergreifen einer Schaufel autorisiert ist.
Die sonderbaren Schrullen des real existierenden Kapitalismus
Bis dahin muss sich allerdings bereits der Feuchtigkeitsfilm auf der Start- und Landebahn mutmaßlich in Eis verwandelt haben, ist zumindest meine Ferndiagnose als das Treiben oder den Mangel daran ungläubig beobachtender Mitteleuropäer hinter der Scheibe. Der Amerikaner am Fenstertisch nebenan meinte dagegen, die BAA würde einfach nicht in Räumungsgeräte investieren, weil sich das über ganze Jahr hinweg betrachtet nicht auszahle.

Gatwick Airport Website
Er sagte das ganz ohne Bitterkeit, weil BAA ja schon lange nicht mehr als Abkürzung für British Airport Authority zu lesen ist, sondern als der - zufällig mit der britischen Schreibweise für Schafsgeblök idente – ansonsten sprachlich bedeutungslose Name einer seit ihrer Privatisierung als De-facto-Monopol arbeitenden Flughafenbetreibergesellschaft. Was jeglichen Zynismus gegenüber der Kundschaft marktlogisch legitimiert.
Noch dazu, wo just am Tag unseres vermeintlichen Abflugs der Berufung der BAA gegen ein Urteil der britischen Wettbewerbskommission zur Auflösung dieses De-facto-Monopols stattgegeben wurde.
Wenn man jetzt sehr zynisch wäre, könnte man also glauben, es wäre vielleicht sogar Geschäftsstrategie, anstatt die Landebahn zu räumen oder einfach den Flughafen zu sperren, seine Passagiere unter Bedienung der lausigsten Ausreden so lange wie möglich in der Abflughalle einzupferchen, wo sie nichts anderes tun können als pausenlos zu konsumieren.
Aber das ist alles nicht so einfach, wie der Amerikaner am Fenstertisch es sich vorstellt. Schließlich wurde BAA 2006 an die spanische Gruppe Ferrovial verkauft, ein 9 Milliarden Pfund-Deal, der über Schulden finanziert wurde, die seit Ausbruch der Kreditkrise nicht mehr finanzierbar sind, weshalb Ferrovial letztes Jahr um einen Sonderpreis von 454 Millionen Pfund die Duty Free-Shops seiner BAA-Flughäfen an die italienische Firma Autogrill verkaufen musste.
Und selbst das De-facto-Monopol, von dem ich vorhin grad geschrieben hab, ist längst nicht mehr, was es scheint, schließlich hat Ferrovial/BAA, während die Berufung im Gange war, neulich ausgerechnet Gatwick Airport abgestoßen, und zwar um 1,5 Milliarden Pfund an die Private-Equity-Gruppe GIP. Da gibt es also noch einen Haufen anderer Schulden, die mit den Einnahmen des Flughafengeschäfts zurückgezahlt werden müssen - für Deals, an denen sich ein paar Leute, die sicher nicht in Gatwick Schlange stehen, stinkereich gemacht haben.
Wenn die Briten sich also das nächste Mal drüber wundern, warum ihre Infrastruktur nicht einmal mit ein paar Grad unter Null und ein paar Stäubchen Schnee zurechtkommt, könnten sie – anstatt sich in schicksalsergebene Selbstverarschung zu flüchten – auch einmal da die Ursache suchen.
Aber irgendwas sagt mir, dass sie sich stattdessen lieber im Schneeregen vor eine Kamera stellen und Gruselgeschichten über unbezwingbare Wettergewalten erzählen, und sei es nur, um einen viel unangenehmeren Gedanken zu verscheuchen, nämlich dass man sie für blöd verkauft.
Also frohe Weihnachten. Wir probieren's dann nach den Feiertagen noch einmal mit dem Fliegen.