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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

20. 12. 2009 - 23:19

Journal '09: 20.12.

Almanac. Das schlaue Buch am stillen Ort.

Ich brauche seit kurzer Zeit viel länger auf dem Klo. Nein, keine Sorge, es folgt jetzt nichts Unappetitliches, es hat mit dem zu tun, was dort an Lesbarem herumliegt. Normalerweise sind das die weniger fordernden Magazine oder Gratis-Zeitschriften. Seit ein paar Tagen herrscht dort aber ein zunächst nur achtlos abgestelltes Nachschlagewerk, ein Almanach.

Er ist mir im Zeitschriftengeschäft zugelaufen, lag dort zufällig in meinem Blickfeld herum, ehe er in einer Sektion verstaut werden sollte, in der ich wohl nicht nachgesehen hätte. So aber: ein Blick, Neugier und her damit.

Ich bin ja seit frühester Jugend mit den Jahresbüchern des Fischer-Weltalmanachs aufgewachsen, deren Bedeutung ich schon in einem sehr frühen Journal einmal gewürdigt habe.

Diese jährlich erscheinenden Kompendien über Politik und Wirtschaft, deren Kern die stets upgedateten Information über alle Länder der Welt sind, sind - da dür den deutschsprachigen Markt produziert - natürlich stark kontinentaleuropäisch ausgerichtet. Und spiegeln so die ganz logischen eurozentristischen Interessen und Anschauungen wider; alles Dinge, die ich (wie wohl jeder andere auch) viel zu selten hinterfrage.

Time Almanac 2010

Das 864-Seiten-Ding, das meine Toilettenaufenthalte verlängert ist der "Time Almanac", Ausgabe 2010, der US-Klassiker zum Thema. Und das Thema ist nichts anderes, als die Welt mittels Zahlen, Daten und Fakten zu einem begreifbarerem Ort zu machen.

Klar ist der Time-Almanac anders, nämlich Amerika-, besser US-zentriert.

Der Time-Almanach

time

Und, ja, wir sind über Bretton Woods, New World Order, Wall Street, Hollywood und andere globale Puppenspielerstränge mit den USA stärker verbunden als die Menschen jedes anderen Lebenszeitalters bisher (wiewohl: was das Römische Reich und das damalige Europa plus vorderem Orient betrifft, kann man da drüber streiten...).

Trotzdem wissen wir nichts über die Dinge, die innerhalb der USA große Bedeutung haben, oft genau überhaupt nichts. Ich merke das, wenn ich Saturday Nite Live-Folgen anschaue und ein Drittel der Gags und Anspielungen nicht einmal im Ansatz verstehe. Wir Europäer schützen und vor diesem Wissen über die USA und wir werden geschützt. Filme, Dokus oder auch nur Stories über allzu spezifsch US-amerikanisches kommen erst gar nicht durch durch diesen Filter der freiwilligen Ignoranz. Beziehungsweise: wenn dann in kleinen Dosen, wie etwa in TV-Reihen, etwas davon durchschimmert, dann wird das gern in der Synchro umgeschrieben oder fehlübersetzt/interpretiert.

Achja, powered by Encyclopedia Britannica

Baseball, hat mir unlängst ein gebürtiger Amerikaner gesagt, ist deshalb die nicht totzukriegende Zentrale des US-Sports, weil es durch die Unverändertheit seiner Regeln seit über hundert Jahren statistische Vergleiche unternehmen kann; und nicht einmal die Phase der Steroid-Dopings Uralt-Rekorde aus dem 19. Jahrhundert wegputzen konnte. Die historische Vergleichbarkeit macht einen Gutteil des Faszination für die Statistik-affine US-Nation aus.
Ich habe alle Zutaten dieser Kausal-Kette gekannt, sie aber - auch aus der oben beschriebenen Distanz - nie so zusammengesetzt.

Und natürlich ist der Time-Almanach dann folgerichtig ein statistisches Paradies, hinter dem sich aber eine Tür öffnet, die zumindest einen Spalt auf das US-Panoptikum freigibt.

Weil ich ja seit ein paar Monaten eine Amerikanistin als Mitbewohnerin habe, bekommt die in den letzten Tagen des öfteren halbgar gemischte "Hast du gewußt, dass...?" oder "Hab ich nicht für möglich gehalten, dass... !" Anfragen serviert.

The most complete Almanac for today's world

Das geht von wirklich nur kurioser Trivia bis hin ins Eingemachte. Die Statistik "Racial Makeup of the largest Cities" etwa: dass es in Detroit den höchsten Anteil der Schwarzen an der Bevökerung gibt, weit höher als Washington, wußte ich. Dass es fast 83% sind, hat mich fast vom Hocker gerissen. Und dazu geführt, dass ich mich dann (also danach, nach dem Klo-Besuch) zum Thema weiter geklockt habe.

Denn klar: alles, was im Almanach zu finden ist, gibt's auch bei Wikipedia. Aber zum einen nicht in dieser kompakten und scheinbar zusammenhanglosen Form und zum anderen kenne ich keinen Web-Anreiz sich von Liste zu Liste zu klicken.

Der Alamanch bringt mir aber die Immigration-Liste nach der War-Casualties-Liste. Er hat die Bill of Rights und die Amandments im Wortlaut, alle Regierungen und oberste Richter seit 1789, die Bevölkerungs-Dynamik (ich staunte etwa, dass Oklahoma, im Zentrum des Kontinents, als fast letzter Staat zur Union kam; erst als die Amerikanistin einen "Trail of Tears"-Film zitierte fiel mir dieser Zusammenhang wieder ein) und die Buchstabier-Wettbewerbs-Meisterliste, die bis 1925 zurückreicht. Ein Jahr davor wurde der damals 29jährige J. Edgar Hoover FBI-Chef, und zwar 48 Jahre lang, bis zu seinem Tod.

... aus US-amerikanischer Sicht zumindest

Die internationale Section zeigt mir den Blick, den die führende Weltmacht eben draufhat: eine Liste aller aktuellen Terror-Organisationen, alle Herrscher, die Frankreich, das UK, China, Japan oder Deutschland je hatten. Endlos die Listen der Päpste oder römischen Kaiser, verblüffend die der afrikanischen Frühkulturen.

Und ein Kompendium, das mir alle Nobelpreise, alle Oscars und Olympiasieger, aber auch die Eurovisions-Contest-Sieger oder T.S.Eliot-Preisträger auflistet, wird mich auch noch bei zumindest 100 weiteren Klo-Besuchen mit Fakten und Zahlen die ich nicht kenne, die meine Neugier und Nachforsch-Begierde anregen, staunen, kopfschütteln und bistdudeppert rufen lassen.

Indem es einfach da herumliegt, das Ding da, der Almanac, am Häusl. So hab ich mir das schlaue Buch von Tick, Trick und Track immer vorgestellt, halt ohne die praktischen Überlebenstipps in der Wildnis; die sind offenbar nur in der Entenhausener Version dabei.
Mir reicht die Ami-Ausgabe derweil einmal vollkommen.