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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

20. 12. 2009 - 09:00

Decemberlist, Zwanzig

Die Lost Brothers und der Klang der Wurzeln, die sie sich wachsen lassen.

Sie ist nicht einmal von heuer, diese Platte, aber wenn Trishes gestern hier völlig zurecht 35 Jahre altes Zeug anpreisen durfte, dann werdet ihr mir verzeihen, dass ich euch hier diese im Herbst 2008 erschienene Platte ans Herz lege. Um genau zu sein, hätte sie so, wie sie ist, mit minimalen Abstrichen, ohnehin in jedem Jahr seit ca. 1960 erscheinen können.

Vor ein paar Jahren hatte eine um einen Pence-Betrag erstandene Second-Hand-Platte mir die bis dahin in meinem Kopf (aufgrund des meiner Generation innewohnenden „Bye-bye Love“-Traumas) schwer fehlrepräsentierte Welt der Everly Brothers erschlossen. Mit einem Schlag hatte sich schon wieder eine der Default-Kategorie „Klingt wie die Beatles“ zugeordnete Klangfamilie als von ganz wo anders her deriviert herausgestellt, ganz zu schweigen von der Schublade „Klingt wie Simon & Garfunkel“, die mit sofortiger Wirkung fast zur Gänze umgeschlichtet werden musste. Ich für meinen Teil finde sowas ja unglaublich spannend.

Das ist die Decemberlist
24 Stücke Musik, täglich eines, den ganzen Dezember über, vorgestellt von FM4 MusikjournalistInnen und Webhosts. CDs, die während des Jahres die FM4 Musikredaktion passiert haben und die für uns von Bedeutung waren. Zum Schenken und Beschenktwerden. Von Indie Pop bis Rare Groove, von dänischem Metal bis österreichischem Songwriter Pop.

fm4.orf.at/decemberlist

Heuer bin ich dann in die Londoner Bush Hall gegangen, um dem ganz offensichtlich auch von solchen Zusammenhängen faszinierten Klangarchäologen M. Ward (Lieblingsfach Mance Lipscomb und Elisabeth Cotten) zuzuhören, als in seinem Vorprogramm zwei Typen auftauchten, die noch in ihren Regenmänteln direkt von der Straße auf die Bühne stiegen, zwei akustische Gitarren auspackten, sich hinter ihre beiden Mikros stellten und mit dieser minimalen Ausrüstung eine der packendsten, berührendsten Shows hervorzauberten, die ich seit langem gesehen oder gehört hatte.

Es ist nichts Spektakuläres dran an klaren Terzen, dem Zusammenklang von Schrubben und Zupfen, simplen Songs und Geschichten vom Weggehen und der Sehnsucht. Aber andererseits ist bekanntlich nichts so schwer überzeugend hinzukriegen, wie die scheinbar einfachsten Sachen, und diese beiden Iren namens Oisin Leech (der mit den Brillen) und Marc McCausland alias Bosh & Bark entwickeln ihren Fingern und ihren Stimmen eine verblüffende Synchronität, die ihr auf den ersten Blick schrecklich pathetisches, gemeinsames Pseudonym The Lost Brothers mehr als rechtfertigt.

Bild der Lost Brothers

Lost Brothers

Ein in der freien Natur aufgenommenes Filmchen ohne Schnitt oder Zoom, in dem sie an einem See vor einer Kulisse aus Vogelstimmen die Nummer „The Last Day on the Job“ vortragen, vermittelt einen bescheidenen Eindruck davon.

Das im Haus des langhaarigen, rauschebärtigen alten M.Ward-Kommilitionen Mike McCoykendall in Portland, Oregon, aufgenommene Debüt-Album „Trails of the Lonely (Parts I & III)“ repräsentiert dagegen eine alternative, gefühlvoll mit zusätzlichen Farbtupfen aus Schlagzeug, Mandoline, Pedal Steel und Tasten versehene Variante dieses Sounds.

Der Legende nach wird McCoykendalls Haus von Gespenstern bewohnt. Im „Joker Ghost Laughing Track“ vor dem Song „Who Could Love You More“ ist zu hören, wie Oisin und Marc sich ängstlich über die von selbst aufgehende Zimmertür wundern, vor Verlegenheit kichern und schließlich in die Entspanntheit ihres Songs fliehen.

Sicher, in den Harmonien des Openers „Angry at the Sun“ und in der anderswo wörtlich zitierten Zeile von den grünen Blättern, die braun werden, klingt eine eindeutige Vorliebe für Simon & Garfunkel durch, aber mehr noch – wie eingangs umständlich erklärt – für die mit letzeren geteilten Inspirationen. Man kann sogar Wurzeln dazu sagen, schließlich ist das Tolle am Pop ja, dass man sich Wurzeln selbst wachsen lassen kann.

Was nicht heißen soll, dass die Lost Brothers ihr romantisches Ideal nicht auch leben würden, ganz im Gegenteil. Nach ihrem Auftritt in der Bush Hall schnappte ich sie mir und nahm mit ihnen ein Interview auf, in dem sie mir erzählten, dass sie auf ihren endlosen Reisen außer ihren Regenmänteln und ihren Gitarren nicht viel Besitztümer mit sich herumschleppen und die Nächte im Schlafsack auf den Sofas von FreundInnen und Bekanntschaften zu verbringen pflegen. Ihre Myspace-Seite ziert folgende unschuldige Botschaft:

"A message from Bosh and Bark; Hello friends! We want to come to your house and play!! If you're interested in being our hosts for a night, send us a message. If your havin a house party or social gathering of like minded folks, we'll come and sing our album live in your living room (or kitchen, or hallway, or garden and so forth). It'll be a good chance for you and your friends to hear the songs in a good atmosphere before we go on tour properly in bigger venues. Tell your friends! We hope to hear from you soon!! Bark 'n Bosh xx"

Wenn ich ihr wäre, würde ich dieses großzügige Angebot annehmen. Die Lost Brothers würden sowieso gern einmal in Österreich spielen. Und überall sonst auch.