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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

19. 12. 2009 - 17:37

Wo die wilden Kinder wohnen

Infantile Freude, Unschuld und Gewalt: Spike Jonze gelingt mit "Where The Wild Things Are" ein poetisches Stück Kunstkino mit Blockbusterbudget.

Dieser Film ist ein einziger Etikettenschwindel, aber einer der wunderbarsten Weise. Wenn sich die amerikanische Entertainmentindustrie berühmten Kinderbüchern nähert, dann entstehen meistens glattgebügelte Konsensstreifen, die es der ganzen Familie recht machen wollen.

Spike Jonze wagt nun das genaue Gegenteil. Um 80 Millionen Dollar hat der Regisseur einen experimentellen Kunstfilm geschaffen, der sich nur nach außen hin als Kinderbuchverfilmung tarnt. Spuren von Hollywood findet man kaum in diesem Streifen. Und wenn schon, dann blitzt das raue New-Hollywood-Kino der siebziger Jahre immer wieder auf.

Aber die vorsätzliche Täuschung, die Jonze betreibt, geht noch weiter. "Where The Wild Things Are - Wo die wilden Kerle wohnen" ist vielleicht nicht einmal ein Film für Kinder, sondern vielmehr ein Film über Kinder.

Spike Jonze zeigt, wie kaum ein anderer Regisseur zuvor, wie ein neunjähriger Bub die Welt erlebt. Und zwar, wie es sich wirklich in diesem Alter anfühlt, ohne die gängigen Verkitschungen und Verzerrungen, die Erwachsene der Kindheit nachträglich andichten. Er zeigt die Sehnsüchte, die Euphorie, aber auch die Wut und die Ängste, die zur infantilen Psyche gehören.

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Warner Bros

Der Bub, um den sich alles dreht, heißt Max (gespielt vom hinreißenden Newcomer Max Records), und er ist erst einmal mächtig angespeist. Andere Kinder haben sein Iglu aus Schnee zerstört, seine geschiedene Mutter (Catherine Keener) hat gerade wenig Zeit für ihn, deren neuer Freund ist ihm unsympathisch.

Frustriert schlüpft Max in sein Wolfskostüm und reißt von zu Hause aus. Auf der Flucht entdeckt er ein kleines Segelboot, das ihn zu einer geheimnisvollen Insel bringt.

Ganz fließend verwischen die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen dem mühsamen Alltag und dem mysteriösen Eiland in "Where The Wild Things Are". Ohne aufdringlichen Effekt-Hokuspokus landet Max im Reich der wilden Kerle.

Eine Gruppe riesenhafter Kreaturen lebt dort im Wald, zugleich gefährlich und tollpatschig wirken sie. Und diese seltsamen Monster sind genauso von ihren Emotionen hin- und hergebeutelt wie der kleine Max.

Where The Wild Things Are - Wo die wilden Kerle wohnen

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Die Vorlage, das ist ein magisches Bilderbuch, 1963 von dem Autor und Illustrator Maurice Sendak ersonnen und seither für Generationen prägend. Ein eigentlich unverfilmbares Werk, das auf Worte beinahe verzichtet.

Vielleicht hat der alte Herr Sendak deshalb vor zehn Jahren den jungen Herrn Jonze kontaktiert. Denn mit surrealen Indie-Meisterwerken wie "Being John Malkovich" bewies der ehemalige Videoclip-Regisseur, welches ungeheure Talent in ihm schlummert. Jonze wiederum hat seine Ex-Freundin Karen O von den formidablen Yeah Yeah Yeahs angerufen, und sie um einen Soundtrack gebeten.

Die mitreißenden Weirdo-Folk-Songs sind eine Sache. Großartig ist aber auch, wie sich der Film den wilden Kerlen nähert. Ganz Oldschool-mäßig steckt Spike Jonze eine Handvoll Darsteller in zottelige Kostüme, und hilft nur bei den Gesichtsausdrücken mit CGI-Hilfsmitteln nach.

Wenn die Monster den Mund aufmachen und mit den Stimmen diverser Stars wie James Gandolfini oder Forest Whitaker sprechen, dann klingt das so beiläufig und lakonisch wie eine Plauderei nebenan.

Where The Wild Things Are - Wo die wilden Kerle wohnen

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Wie gesagt, "Where The Wild Things Are" hätte eine gefällige Fingerübung in Sachen Fantasy werden können, ein Hollywoodmärchen mit berechnendem Indie-Touch.

Aber dieser Film ist niemals picksüß und krampfhaft niedlich, er erlaubt sich auch spröde Momente, wirkt roh und sprunghaft und unberechenbar. Und wer sich bei diesen Eigenschaften an die eigene Kindheit erinnert, liegt richtig. Denn die Machart des Films, die Charaktereigenschaften der wilden Kerle, all das spiegelt einzig den Blickwinkel eines Neunjährigen, ungefiltert.

Hollywood, das sein Publikum so oft für dumm verkauft, sorgt heuer für zwei der schönsten Weihnachtsgeschenke überhaupt. Der eine Film, James Camerons "Avatar", betört mit göttlicher Opulenz und irrwitziger Überladenheit. "Where The Wild Things Are" verzaubert dagegen nur als kleines Stückchen Kinopoesie.

Was diese beiden sehr gegensätzlichen Werke verbindet, ist ihr unbedingter Glaube an die Kindheit bis ins hohe Alter, an die unbegrenzte Fantasie, an die ewige Naivität als Waffe gegen die Abgeklärtheit, die unsere Gegenwart verödet. Zyniker mögen bei diesem Filmen abschätzig lächeln, wir Na'vi-Krieger und wilden Kerle, wir weinen vor Freude.

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