Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "U can't touch this!"

Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

20. 12. 2009 - 16:59

U can't touch this!

James Cameron revolutioniert das Unterhaltungskino mit "Avatar"

Poster

www.cineast.ch

James Camerons Avatar gilt als teuerste Filmproduktion aller Zeiten. Das Studio 20th Century Fox gibt als offizielle Zahl knappe 250 Millionen Dollar an: nimmt man allerdings alle technologischen Entwicklungen im Vorfeld der Produktion, die den Film erst möglich gemacht haben, mit in die Rechnung hinein, gehen Experten von einem Budget von rund 500 Millionen Dollar aus.

Und ausatmen. Es fühlt sich an, als würde die gesamte Filmindustrie nach monate-, nein jahrelanger Anspannung wieder auf ein Normalmaß zusammen schrumpfen. Diesen Mann braucht es also, um dem unterhaltungsübergeilten kalifornischen Behemoth, diesem taumelnden, mit Spektakeln um sich werfenden Koloss eine Ekstase zu schenken. Die Produktionsgeschichte von James Camerons Opus Magnum Avatar liest sich wie die Chronik eines Scheiterns, weil so ein Unterfangen eigentlich nur scheitern kann, oder?

Ich fühle mich erinnert an die Hochzeit der klassischen Hollywood-Technicolor-Epen, als die Megalomanie der Liz Taylor-Cleopatra ein ganzes Studio ins Schwanken brachte, als David Lean seinen Lawrence in die Wüste schickte, als im unendlichen Aufmerksamkeits-Poker noch alles auf ein Pferd gesetzt wurde. Kino, das war nicht nur ein Ort, in dem abgekämpfte Leistungsgesellschaftsleichen noch ein klein wenig Unterhaltung aus der Fadgas-Suppe des Entertainment-Überangebots löffelten: es war ein mythischer Olymp, auf dem Leinwandgötter Tango tanzten, sich zu tatsächlich überirdischen Höhen aufschwingen und im nächsten Atemzug schon durch die Klatschpressenspalten fallen und vergessen werden konnten.

Die neue Welt

James Cameron beherrscht die hohe Kunst der Übergröße wie kein zweiter lebender Regisseur: erfolgsverwöhnt von Terminator bis Titanic, hat er seinem Werk jetzt die Krone aufgesetzt. Um es kurz zu machen: "Avatar" ist der Film, auf den alle gewartet haben. Sogar jene Kritiker, die den Auswüchsen Hollywoods für gewöhnlich skeptisch gegenüberstehen, müssen diese Leistung anerkennen.

Liebespaar

Fox

Der immer noch erfolgreichste Film aller Zeiten: Titanic

Als "König der Welt" bezeichnet sich James Cameron selbst, als seine "Titanic" 1997 mit insgesamt elf Oscars ausgezeichnet wird. Der Erfolg ist für den kanadischen Regisseur Grund genug, sich zurück zu ziehen. Zwölf Jahre lang arbeitet er abseits der breiten Öffentlichkeit an seinem Herzensprojekt "Avatar". Cameron ist ein Visionär: seine Filme sprengen immer neue Grenzen des Darstellbaren und erobern technologisches Neuland. Für "Avatar" will er das Kino von Grund auf neu definieren: die Geschichte eines Konflikts zwischen blauhäutigen Außerirdischen und menschlichen Kolonisatoren soll für die Zuschauer eine vollkommene Erfahrung sein. Also erforscht und entwickelt Cameron die Technologie, die er dafür braucht: und wartet über ein Jahrzehnt, bis er seinen "Avatar" fertig stellen kann.

Raumschiffe

Fox

Aufbruch in eine neue Kino-Dimension. Um Regisseur Michael Mann (Public Enemies) nach der Weltpremiere von "Avatar" im Grauman's Chinese Theatre in Hollywood zu zitieren: "There is before this movie and after this movie."

Krieg der Welten

Raumschiff

Warner

Durch den Tunnel der Zeit: 2001 - A Space Odyssey von Stanley Kubrick

Es ist das Jahr 1968: junge Menschen gehen auf die Straße und kämpfen für ihre Freiheit. Im kanadischen Dorf Chippawa spielt sich die Revolution vor allem im Kino ab: James Cameron, der Sohn einer Künstlerin und eines Elektro-Ingenieurs, ist 15 Jahre alt, als er Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey sieht. Ein visionäres Stück Kino, das Leidenschaftsprojekt eines manischen Regisseurs, der seine Idee technologisch perfekt umsetzen konnte. Cameron ist angefixt: ab diesem Moment will er Filmemacher werden. 1971 zieht er mit seiner Familie nach Kalifornien um: er beginnt ein Studium und bricht es schnell wieder ab. Lieber jobbt er als Truckfahrer und schreibt in den Nächten an seinen Drehbüchern. Er geht oft ins Kino, saugt die Filmgeschichte auf: im Herbst 1977 schließlich hat er sein zweites und entscheidendes Erweckungserlebnis.

Menschen

Fox

A New Hope: der erste Star Wars-Film zeigt James Cameron, was immersive Unterhaltung bedeutet

In einem Schachzug, der sogar Werbe-Kaiser George Lucas zum Heulen bringen würde, bringt der amerikanische Spielzeugriese eine Toyline zu "Avatar" auf den Markt, die sich der "augmented reality" bedient. Jeder verkaufen Real Life-Actionfigur liegt ein Chip bei, den man von seiner Webkamera scannen lassen kann. Sodann erscheint auf einer interaktiven Benutzeroberfläche eine 3D-Figur des gekauften Plastik-Männchens und lässt sich bewegen und kontrollieren, indem man vor dem Computer-Schirm bestimmte Bewegungen ausführt.

George Lucas "Star Wars" und Stanley Kubricks "2001": zwei tragende Säulen für Camerons Kinoverständnis, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Der eine verhilft dem modernen Merchandising-Kino zur Geburt, der andere ist die persönliche Vision eines verschrobenen Film-Künstlers. Und was macht Cameron? Er heuert bei Trash-Produzent Roger Corman als Effekt-Künstler an und erhält 1981 seinen ersten Regisseurs-Auftrag. Es ist eine traumatische Erfahrung: am Set von Piranha II – The Spawning spricht kaum jemand Englisch; außerdem ist der Horrorfilm massiv unterfinanziert. Cameron sagt, dass er aufgrund seiner Erfahrung mit "Piranha II" Albträume von einem Killerroboter hatte.

Mann schießt

Fox

Arnold Schwarzenegger in der berühmten Tech Noir-Sequenz in "The Terminator"

Die Menschmaschine

Er entwickelt diese Vision weiter: 1984 entsteht unter seiner Regie The Terminator. Ein günstig produzierter Actionfilm, der zum Überraschungserfolg wird; und dessen revolutionäre Effekte Cameron endgültig Zutritt zu Hollywoods Oberliga verschaffen. Neben Arnold Schwarzenegger wird auch Hauptdarstellerin Linda Hamilton über Nacht zum Star: sie ist die erste in einer Reihe von hart gesottenen Cameron-Heldinnen. Auch im nächsten Film des Regisseurs hält eine Frau die Waffen in der Hand: 1986 kämpft Sigourney Weaver in Aliens gegen außerirdische Monstren.

Alien

Fox

Kaum ein aktiver Regisseur komponiert seine Bilder so penibel und perfekt wie James Cameron: in "Aliens" bereitet sich die Mutter allen Übels auf ihren Kampf gegen Ellen Ripley vor

James Cameron ist Künstler und Wissenschaftler in Personalunion: für jeden seiner folgenden Filme lässt er neue Technologien entwickeln. Die digitalen Wassereffekte aus seinem Science-Fiction-Drama The Abyss sind 1989 noch revolutionär, sehen aber schon zwei Jahre später wieder alt aus. Camerons Terminator II: Judgment Day revolutioniert damals die Computereffekt-Kunst mit einem Killer-Roboter aus Flüssigmetall: ein fester Körper zerfließt; und ein kanadischer Regisseur verändert die Art, wie wir im Kino träumen.1997 regnet es Oscars auf Camerons Titanic, dem immer noch erfolgreichsten Film aller Zeiten.

Down! Down! And away!

In den folgenden Jahren taucht der Regisseur selbst unter: bei seinen Tiefsee-Dokumentationen über die Wracks der Bismarck und der Titanic entwickelt James Cameron die 3D-Technologie weiter. Das Ziel seiner Reise hat er schon vor Augen: sein Langzeit-Projekt "Avatar" soll Gebrauch von den revolutionären Effekten machen - und eine vollkommen neue Wahrnehmung im Kino ermöglichen. Am 18. Dezember 2009 startet "Avatar" weltweit in den Kinos. Cameron erzählt erneut eine Geschichte, in der die Technologie Zivilisationen vernichtet und Kriege ermöglicht. Er selbst zeigt vor, wie man sie besser einsetzt: "Avatar" ist ein bombastisches Epos und eine ganzheitliche Erfahrung. Die perfekte Verschränkung von "Science" und "Fiction", von Kunst und Wissenschaft. Erschaffen von einem Mann, der im Kern immer noch der träumende Bub aus Chippawa ist; der "2001" ebenso liebt wie "Star Wars".

Planet

Fox

Willkommen auf Pandora: die Bilder von "Avatar" erreichen eine Ebene der technologischen Perfektion, die noch vor einem Jahr unvorstellbar gewesen wäre und sogar Innovatoren wie Peter Jackson und Steven Spielberg sprachlos gemacht hat.

"Avatar" beginnt mit einem Flug über Pandora: wir schreiben das Jahr 2154 und die Menschheit ist in der Lage, durch das Weltall zu reisen. Da die Ressourcen auf unserem blauen Planeten längst erschöpft sind, er in der Milchstraße hängt wie eine schöne Leich', bemannen Unternehmen wie SecFor ganze Sternenflotten, um nach einer Ausbeutungsalternative zu suchen. Das Corporate America hat sich in Camerons Zukunft mit dem Militär verschränkt: "Aktionäre mögen keine schlechte Presse. Aber was sie noch weniger mögen, sind schlechte Quartalszahlen", deklamiert Giovanni Ribisi, ein trockengolf-spielender Aufziehaffe von SecFor in die Kamera und verschafft sich damit gleich die Legitimation, in ein paradiesisches Öko-System einzufallen, um es seiner wertvollen Bodenschätze zu berauben.

Mann, Sporen

Fox

Everything is illuminated: die kleinen weißen Quallenähnlichen sind tatsächlich Sporen des Heiligen Baums der Na'Vi, in dem ihre Göttin Eywa lebt. Laut Neytiri (Zoe Saldana) "die reinsten Geister" des Planeten Pandora

Höllenvisionen

Monster

Fox

Der Thanator ist der größte Landräuber auf Pandora

"Avatar", so lese ich in diversen Gazetten, sei Camerons erster Film mit Botschaft. Natürlich aber hat der kanadische Regisseur in allen seinen Filmen, mit der Ausnahme von "Piranha II - The Spawning" vielleicht, schon gewarnt vor gesichts- und emotionslosen Konglomeraten, die wissenschaftliche Errungenschaften für ihre unmoralischen Zwecke instrumentalisieren. Gier ist Gott, und man kann in seinen Filmen dabei zusehen, wie der überhebliche Mensch für diesen Sündenfall abgestraft wird. Höllentore öffnen sich, ätzende Außerirdische und Roboterskelette fressen sich durch unsere Zivilisation als wäre sie aus Pappe. Was sie vielleicht auch ist.

Die Na'vi auf Pandora sind das Ideal einer kreatürlichen Zivilisation: die blauhäutigen Riesen leben in Stammesgemeinschaften zusammen, in äußerstem Einklang mit der sie umgebenden Natur, die die einfallenden Menschen nur deshalb als lebensfeindlich beschreiben, da sie noch nicht wissen, wie sie sie unterwerfen und ausbeuten können. Cameron und sein Stab (Team kann man die Hundertschaft an Kreativen nicht nennen) haben Pandora von Grund auf erschaffen: "Avatar" ist der seltene Fall eines Blockbusters, dem kein Buch, kein Film, kein Computerspiel und keine Toy-Line zu Grunde liegt. Von fingernagelgroßen Insekten hin zu gewaltigen Raubtieren wimmelt es in diesem Urwald, der nächtens fluoresziert wie eine Tiefseelandschaft. Allein schon die Detailgenauigkeit und Präzision beim digitalen Herausmeißeln eines solchen außerirdischen Biotops lässt einen mit offenem Mund im Kinosaal hocken.

Alien

Fox

Dr. Grace Augustine (Sigourney Weaver) ist mit ihrem Avatar auf Pandora

Die totale Immersion

Das ist freilich erst der Anfang: in der Geschichte geht es um den querschnittsgelähmten Ex-Soldaten Jake Sully (Sam Worthington), der anstatt seines verstorbenen Zwillingsbruders, einem Forscher, an einem Aufsehen erregenden Experiment Teil nehmen wird. Die Wissenschaftler rund um die geniale, resolute und Kette rauchende (!) Dr. Grace Augustine (super: Sigourney Weaver) haben aus menschlichen und Na'Vi-DNA-Strängen künstliche Körper erschaffen, die die blauhäutigen Pandora-Ureinwohner exakt kopieren. Sie sind Avatare und müssen demnach von jemandem belebt werden: das Bewusstsein von Jake Sully wird in einen dieser Körper übertragen, der es ihm ermöglicht, in der giftigen Atmosphäre des Planeten zu überleben und von den Eingeborenen wertvolle Informationen zu erfragen.

Tank, Außerirdischer

Telegraph

Jake Sully (Sam Worthington) im Vordergrund, sein Avatar im Hintergrund

Man braucht keine 3D-Brillen um zu verstehen, dass die tropische Anderswelt Camerons Vision einer virtuellen Wirklichkeit ist, die für seinen Protagonisten Jake Sully schrittweise zur neuen Lebensrealität wird. "Avatar" ist eine Utopie, eine der wenigen, die seit der Abdunkelung der Film-Science-Fiction nach den "Matrix"-Filmen überhaupt zum Leben gekommen ist. Pandora ist ein ganzheitliches System, ein Netzwerk, das, wie das menschliche Gehirn, Informationen elektrochemisch überträgt und auf kleinste Veränderungen im Gleichgewicht empfindlich reagiert. Die Na'Vi laden ihre Erinnerungen und Erfahrungen in dieser Welt über leuchtende Bäume, deren hängende Äste nicht von ungefähr an Kabeln erinnern, hoch und laden sich das Bewusstsein ihrer Vorfahren herunter. Eine unbedingt schöne, neue Welt.

Eine neue Wirklichkeit

Wienerinnen und Grazer haben die Möglichkeit, "Avatar" im IMAX 3D-Kino zu erleben, in der Form, die sich Cameron für seinen Film gewünscht hat. Jedenfalls im Wiener Apollo Kino, in dem sich der einzige IMAX-Saal der Bundeshauptstadt befindet, läuft "Avatar" noch einmal, nämlich am kommenden Mittwoch dem 23. Dezember in der Originalversion.

Die eigentliche Revolution von "Avatar" liegt vielleicht nicht in der erzählten Geschichte, die sich stellenweise zu stark an zu oft erzählten Mythen reibt, sondern in der Form, wie Cameron sie erzählt. Man kann ohne Einschränkung behaupten, dass "Avatar" der erste Film seiner Art ist, ein Quantensprung in der Filmtechnologie, nur vergleichbar mit der Erfindung des Ton- oder des Farbfilms. Tatsächlich blickt man fast drei Stunden lang auf ein beinahe gänzlich digital kreiertes Panoptikum und begreift es als vollkommen organisch: die schon im Vorfeld hoch gelobte, von Cameron und seinen Wissenschaftlern unter anderem bei Tauchgängen entwickelte und extra für diesen einen Film erschaffene 3D-Technologie rückt vollkommen ab vom einfachen Wow-Effekt und gliedert sich ein in die bereits bestehende Reihe von Stilmitteln. Die ersten Minuten wundert man sich noch über die sich plötzlich vor einem auf tuende Tiefenwahrnehmung, aber schnell genug nimmt man sie einfach hin. Als Tatsache, als neue filmische Wirklichkeit.

Mann mit Waffe

blog.cdn.com

Der Mann ist schwer bewaffnet und schießt sich die Zukunft des Kinos frei: James Cameron

Ja, "Avatar" ist der Film, auf den alle gewartet haben. Reines Erfahrungskino, nach dem man süchtig wird. Ich hab ihn schon zweimal gesehen und habe immer noch nicht genug. Ein Rausch, den das Kino im Jahr 2009 dringend braucht, den man nicht in den Wohnzimmern reproduzieren, den man sich nicht auf Festplatten laden kann. Ein Film, der gleichzeitig primitiv, urkräftig und hyper-modern ist, der das Potenzial und die Kraft hat, eine ganze Kunstform neu zu beleben.

Auge, blaue Haut

guardian.co.uk

Avatar ist österreichweit im Kino zu sehen.