Erstellt am: 19. 12. 2009 - 02:30 Uhr
Selling in the Name
Als einer, der zähneknirschend Guardian und Independent abonniert, um mit einer Kombination aus zwei Zeitungen ungefähr die Substanz von einer aus der Zeit vor deren Verfall zu erreichen, bin ich Fluff-Geschichten gewöhnt, die sich als Schilderung umwälzender gesellschaftlicher Phänomene anlassen, ehe sie sich in der dritten Spalte als die Ernte eines journalistischen Streifzugs durch die Welt der Facebook-Gruppen entpuppen.
Genauso hatte ich anfangs auch die Sache mit der Schlacht um die britische Weihnachts-Number-One rezipiert. Ich hatte ja angenommen, dass sich längst niemand mehr drum schert, was in dieser bereits so gut wie virtuellen und belanglosen Singles-Chart überhaupt vor sich geht.
So wie in den vier Jahren zuvor (nicht dass ich was davon mitgekriegt hätte), hätte auch heuer wieder der Gewinner der Fernseh-Talente-Show X-Factor in der Weihnachtswoche an der Spitze der Verkaufsliste firmieren sollen.
Wie der Typ heißt, der da singt, ist tatsächlich unerheblich, sein Vorname ist Joe, soviel weiß ich. Was er singt, ist noch unerheblicher, irgendeinen erprobten Hit halt. Die Figur im Mittelpunkt des Phänomens ist dagegen ein Mann mit einer spektakulär eckigen Frisur und einer eigenartigen Vorliebe für tiefe V-Krägen namens Simon Cowell.
Die Liebe zum Feindbild
Ich muss zugeben, ich habe - nicht aus Trotz oder als Statement, sondern aus purem Desinteresse - in meinem Leben noch keine einzige Sekunde X-Factor gesehen. Ich höre auch nicht die Radiosender, die Ergüsse diverser KandidatInnen spielen, die ich infolgedessen auf den Titelseiten der Boulevardpresse weder am Gesicht noch am Namen erkenne. Muss ich auch nicht, schließlich leben wir in einer Zeit, wo es selbst für eine/n Popjournalisten/in erstmals nicht mehr nötig ist, zu wissen, welcher Song die Charts anführt.
Seit einiger Zeit hab ich trotzdem gelernt, den X-Factor auf perverse Weise zu schätzen. Am Ende einer Dekade, in der die Nischenvermarktung triumphiert hat und selbst die logische Gegenreaktion der Bejahung des Mainstream durch das Nischenpublikum (Phänomene wie Timberlake oder Gaga) sich schon wieder totgelaufen hat, braucht es nämlich das durch und durch Falsche, von dem es sich demonstrativ abgrenzen lässt, ein augenscheinliches Beispiel für den Unterschied zwischen lebendiger Popkultur und verordnetem Entertainment.
Das sentimentale Schlachtfeld
Dass diese Reibungsenergie sich nun ausgerechnet auf dem Schauplatz der untoten Single-Charts entladen würde, hätte ich allerdings nicht erwartet. Schon gar nicht rund um einen Song wie "Killing in the Name" von Rage Against the Machine, ausgehend von – was sonst – einer Facebook-Gruppe, die den Neunziger-Gassenhauer für ihre Wut wider Cowells Maschine instrumentalisiert hat.
Noch mehr überrascht hat mich in den letzten paar Tagen nur, welche Leute sich von diesem Duell emotionalisieren haben lassen: Die Promoterin eines führenden Independent-Labels, dem Werk von RATM eigentlich wenig zugeneigte JournalistenkollegInnen wie Everett True und Charlie Brooker, ein üblicherweise auf Adult-Indie spezialisierter Veranstalter wie Eat Your Own Ears oder MusikerInnen von Alex Kapranos über RATM selbst bis hin zu, wie man hört, Paul McCartney.
Zu Wochenmitte sah es nun so aus, als würde "Killing in the Name" den mir nicht bekannten Song des mir nicht bekannten X-Factor-Gewinners um einige Zehntausend Einheiten hinter sich lassen, aber bis gestern Abend hatte sich der Abstand wieder auf eine vierstellige Zahl verringert, und selbst ansonsten einigermaßen gelassene Menschen wurden eigenartig nervös.

BBC
Simon Cowell, der wie alle großen Manipulateure der Massen bloß deshalb so skrupellos sein kann, weil er im Grunde nichts versteht, hat die RATM-Kampagne gegen seine Weihnachtssingle unlängst als "zynisch" verurteilt. Ein starkes Stück für einen, der in seiner Personalunion als Juror und Produzent den Zynismus besitzt, dem Pöbel Demokratie vorzugaukeln, indem er ihn zwischen seinen Marionetten abstimmen lässt.
Das Schönste an dem ganzen eigenartigen Wettkampf, an dem Simon Cowell natürlich erst recht wieder fett verdienen wird, ist jedenfalls seine Symbolkraft als letzte große Geste dieses Popjahrzehnts, zu dessen ersten Weihnachten übrigens Bob the Builder die Hitparade anführte. Aber jenseits des unabhängig vom Ausgang der Chartsschlacht anhebenden Jubels stellen sich dahingehend mindestens zwei empfindliche Fragen:
1) Musste es ein alter RATM-Song sein, weil niemandem ein zeitgenössischer Track eingefallen wäre, der auf derart breiter Ebene für Widerstand steht? Und warum hat das Zeitalter der Post-9/11-Gesellschaft trotz Krieg, Folter und Krisen nichts Vergleichbares hervorgebracht?
Offenbar jedenfalls nicht, weil es keinen Bedarf dafür gäbe.
2) Wenn die Verkaufscharts - und sei es bloß aus sentimentalen Gründen - immer noch als ultimativer Schauplatz für den großen Richtungsstreit der Massen im Pop herhalten, was wird dann nach deren Ablösung durch ein an Sekundärverwertung gebundenes Mäzenatentum diese Funktion übernehmen?