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Zita Bereuter

Gestalten und Gestaltung. Büchereien und andere Sammelsurien.

21. 12. 2009 - 21:53

Es ist sehr kalt.

Über den Tod und die Frage, ob man Weihnachten auslassen soll.

Mein Vater ist gestorben.
Ich kann den Satz immer noch nicht aussprechen, ohne gegen Tränen anzukämpfen. Weder vor drei Wochen, noch jetzt.
Also sage ich diese Worte so selten wie möglich. Rede derzeit generell nicht viel, meide die Öffentlichkeit und ignoriere das Telefon.
Mein Vater ist gestorben und es war absehbar, weil er krank war und doch kam der Tod überraschend und mit einer ungeheuren Wucht.
Dass eine Woche nach seiner Beerdigung der Vater meines Freundes einen Hirnschlag erlitt und wir in der Intensivstation wieder in diesem beunruhigenden Feld zwischen Leben und Tod verharren mussten, hat die Sache nur noch schlimmer gemacht.
Mein Vater ist gestorben und um das zu verarbeiten und zu verstehen, aber auch um mich abzulenken, habe ich gelesen. "Der Tod meiner Mutter". Eine autobiographische Erzählung des Journalisten Georg Diez.

Der Tod meiner Mutter

das cover zeigt ein schwarz weiß bild einer jungen frau mit sonnenbrille

Kiepenheuer & Witsch

Georg Diez: Der Tod meiner Mutter. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009.

Am 3. Dezember 2006 stirbt Hannelore Diez 71 jährig in München. Eine starke Frau, die in den 50er Jahren vor ihrer strengen Familie in die Musik flüchtet, Kirchenmusik und Orgel studiert und durchaus aus Sehnsucht nach einer eigenen Familie viel zu jung einen Pfarrer heiratet. 1968 ändert sich vieles radikal: "Für Frauen wie meine Mutter war die Emanzipation eine Aufforderung, das eigene Leben durchzuschütteln." Sie beginnt nochmal zu studieren, lässt sich in den 70ern scheiden und lebt mit ihrem Sohn in einer Wohnung, aus der sie bewusst auszieht, um stolz ihr eigenes Leben zu führen. In den USA lässt sie sich als Mediatorin ausbilden und ist eine der ersten Famillienmediatorinnen in Deutschland.
Ganz sicher war sie keine einfache Frau, sondern ein "freier Geist", wie es in einem ihrer Nachrufe hieß.

Soviel zum Leben in aller Kürze. Was Georg Diez aber vielmehr erstaunlich ehrlich erzählt, ist das Sterben der Mutter. Die ersten Anzeichen des Todes, das langsame aber stetige Eindringen des Sterbens in das Leben. Oder umgekehrt. "Das Sterben passiert meistens nicht plötzlich. Es zieht sich hin, das Leben entweicht in vielen kleinen und ein paar großen Schüben, jedes Mal erschrickt man ein bisschen, trauert ein bisschen, findet sich damit ab, macht weiter. Dann geht es wieder ein wenig besser, das Leben drängt sich in den Tod hinein."

Hannelore Diez erkrankt 1994 an Krebs. Seine Mutter wollte aufpassen, schreibt Georg Diez, denn so könnte sie den Tod aufhalten, dachte sie. Daher gab es in der ganzen Wohnung verstreut Brillen und Zettel. "Sie schrieb, um sich nicht zu verlieren." Unter anderem Listen – eine davon "Ideen für Selbstbestimmung und Veränderung.", in der "Heitere Sicht" noch vor "eigenes Geld" kommt und als letzter Punkt auf der Liste "Umgang mit Krebs".

der autor georg diez

Ali Kepenek

Foto © Ali Kepenek

Georg Diez, geb. 1969, ist Autor und Journalist bei der "Süddeutschen Zeitung" und hat zuvor u.a. für "Die Zeit" oder den "Spiegel" geschieben.

Diesen Umgang fasst Georg Diez in Worte, vor allem die Hilflosigkeit, das ausgeliefert sein. "Ich lernte, dass es verschiedene Wahrheiten gab, die der Kranken und die der Gesunden, und ich lernte, dass es nur wichtig sein konnte, was wahr war für sie, weil es das Einzige blieb, was sie hatte, ihre Wahrnehmung; so reagierte ihr Körper, so reagierte ihr Geist, sie schuf sich diese Wahrheit, und wenn sie sich verirrte, war es egal. Auch im Trug fand sie Halt."

Und er beschreibt Dinge, die ich nur zu gut kennenlernen musste – das lähmende Wissen, dass jedes Beisammensein das letzte sein kann. Eine unerträgliche Vorstellung an "das letzte Mal", die jedem Wort, jeder Geste, jeder Kleinigkeit eine enorme Bedeutung zukommen lässt. Alles will man sich merken, das Richtige möchte man sagen und weiß doch gar nicht mehr, was falsch ist. Tausende Fragen drängen sich auf, die man dann aber doch nicht stellen will, weil man keiner mehr Bedeutung zuordnen möchte, weil man keineswegs das Gefühl aufkommen lassen möchte, dass dies die letzte Möglichkeit sein könnte, diese Fragen zu beantworten, weil man so tun will, als sei alles bestens. Als sei alles normal. Als würde alles irgendwie gut werden.
Die Lähmung, die in dem einen Satz alles aussagt: "Ich schloss die Tür und wusste nicht, ob sie noch da sein würde, das nächste Mal."

Es ist sehr kalt

"Aufschreiben als Beweismittel." schreibt Hannelore Diez auf einen Zettel, den Georg Diez behält. Er selbst hat erst bei der Urnenbeisetzung den ersten Satz notiert. In diesem Vakuum zwischen Tod der Mutter und wenige Wochen vor der Geburt seiner Tochter hatte er das Bedürfnis zu schreiben.
"Es ist sehr kalt" ist der letzte Satz, den ich von meinem Vater habe. In seiner gleichmäßigen aber mittlerweile sehr wackeligen Schrift auf die Rückseite eines Kuverts notiert.
Es ist sehr kalt – so lässt sich auch mein Empfinden der letzten Wochen beschreiben.
"In diesen unangenehmen Gefühlen gefangen, ist man nicht fähig zu formulieren, was lähmt. Die Schmerzen zu bezeichnen, zu orten, dingfest zu machen in der Hoffnung, sie damit zu lindern," hab ich in mein Tagebuch notiert. Immer wieder hab ich das Lesen für Notizen unterbrochen. Allein für diese kleinen Lichtblicke im Gefühlschaos schätze ich die autobiographische Erzählung von Georg Diez. "Ich wusste, dass ich mich an das erinnern wollte, was jetzt war."

Selbst als Georg Diez den toten Körper beschreibt, die Haut, die langsam erkaltet, selbst da bin ich ihm dankbar für diese Erzählung, weil sie mir nicht nur das Leben und Sterben seiner Mutter nähergebracht hat, sondern das Leben und Sterben meines Vaters in gewisser Hinsicht konserviert hat.

Weihnachten

Jetzt auch noch Weihnachten. Jeder Art von Weihnachtsfeier bin ich erfolgreich aus dem Weg gegangen. Gerne würde ich auf Weihnachten und die damit verbundenen Erinnerungen verzichten. Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit, als die Welt noch heil war. Erinnerungen an vergangene Jahre, als besonders wichtige Menschen noch gelebt haben. Der Schmerz scheint sich in der Weihnachtszeit zu verdichten. In diesem Jahr drückt der süßliche Weihnachtsduft, wirkt überladen mit Sentimentalem, schwer, ja geradezu erstickend.

Aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis weiß ich, dass einige den Verlust einer oder gar mehrerer Personen bewältigen müssen und andere mit der Gewissheit leben, dass diese Weihnachten die letzten sein werden, die sie mit einem geliebten Menschen feiern können.
Ich habe kein Patentrezept, wie und ob wir Weihnachten feiern sollen. Vielleicht sollten wir gar nicht lange darüber nachdenken, was richtig, was falsch ist und über all dem Abwägen das Wesentliche, das Gegenwärtige übersehen.
Insofern wünsche ich gerade diesen Menschen besonders viel Kraft, auf dass sie die Gegenwart bewusst erleben können. Bewusst als schön erleben können. "Wir blieben eine Weile, und während wir da waren, dachte ich, wie schwierig es ist, und als wir gegangen waren, dachte ich, wie schön es war."