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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

17. 12. 2009 - 21:39

Journal '09: 17.12.

Let's reboot the country. Fünfzehn radikale Ideen für ein smarteres Land.

Um in einer Hinsicht an gestern anzuknüpfen: derzeit definiert eine TV-Serie von 2002/3 mein Bild von London/England. Spooks läuft bis heute, in der 8. Staffel, spielt - mit stetig wechslendem Personal - innerhalb des MI5 und rückt das UK in einer Rolle, die ihm hierzulande kaum noch zugeschrieben wird, ins Bild. Als Drehscheibe des globalisierten Irrsinns, zwischen US-geheimdiensten, Terror-Zellen, dem irischen Problem, rechtspopulistischen Putschen, den Nachwehen des Balkan.-Kriegs, als heimliches NATO-Zentrum etc.

Spooks-Cast

zdf

Spooks, aktuell immer Dienstags im ZDF, war eine offensichtliche Reaktion auf 9-11 und den War on Terror der USA und bedient neben dem neu aufkommendem Element der Angst davor als Außenposten im alten Europa reingezogen zu werden (was 7/7, dann ja auch geschah) auch sowas wie eine Neubewertung der eigenen Bedeutung, die Betonung der Wichtigkeit der Weltzentrale.
In Österreich, wo man London als abstrakten Finanz-Ort (City), als Pop-Heimat, als Verkehrs-Infarkt-Monster und als Vorreiter des Niedergangs der Sozialdemokratie sieht, ist das eine Facette, die kaum auftaucht.

Komischerweise nehme ich Großbritannien seit Spooks eine Spur ernster als davor; habe Abstand davon genommen, diesen bissigen Löwen zu unterschätzen.
Und deshalb ist mir das Cover der UK-Ausgabe des Wired-Magazins auch nicht als Gag aufgefallen, wie das passieren kann, wenn man stets John Cleese assoziiert, sondern seriöser eingefahren.

Wired-Cover

wired

Let's reboot Britain

steht da. Und: Fifteen radical Ideas for a smarter Nation.
Abgesehen davon, dass die Briten keine Angst vor dem Nationenbegriff haben wie der eine Teil bei uns, und kein Schindluder treiben wie der andere, ist das ein Ansatz, den ich hierzulande auf das Schmerzhafteste vermisse: Riskantes zu postulieren, eine echte Diskussion zu suchen ohne sich in Klientelschiel-Politik zu verlieren, an der Machtsuppe zu kochen oder schlicht und einfach den Staat abzuzocken.

Deshalb hier ein Blick auf das, was rauskommt, wenn Engländer nachdenken über ihr Land und die Zukunft. 15 Ideen eben, manche nicht einmal ansatzweise wirklich radikal, manche unzerkaut und schwammig, manche nur grobe Handlungs-Anleitungen, manche aber sauclever. Manches klingt auch nur gut.

5 Ideen von 15 Kontributoren des Wired-UK-Mags.

1) Tax People back into the cities

Genau, gegen das Landleben polemisieren, ein guter Start. Natürlich ist es widersinnig, dass jene, die in der Stadt und von der Stadt leben, vor und außerhalb der Stadt hausen, ökonomisch und verkehrstechnisch ein Holler sondergleichen. Und ein Londoner Super-Problem. Wohl deshalb hier gleich ganz vorne dabei, in einem Aufruf zur "urban renaissance". Für Wien nur teilweise anwendbar. Da spricht die Demografie ja vielmehr für Land- als für Stadtflucht.

2) Teach children to see in four dimensions

Allzuviel, sagt Marcus du Sautoy, hängt von cleverer Mathematik ab. Und das Verstehen dieser Sprache ist unterausgeprägt. Seine Lösung: Teach children to see in 4D.
Ich hab keine Ahnung, was der Herr Lehrer da meint, wohl auch, weil meine damals lieber mit ihrer Flasche im Physik-Kammerl war, als uns was beizubringen, aber ich setz mich gleich morgen dran und zeichne das nach.

Für Österreich kommt dieser Vorschlag eh zu früh. Da empfehle ich die Schul-Ideen, die in der aktuellen Falter-Nummer 51 - wie fast immer nicht auf der Parodie-Site Falter-Online nachzulesen, dafür auf Autorin Ingrid Brodnigs Seite.

So stell ich mir übrigens eine Problem-Analyse vor.

3) Green our overseas diplomacy

Das UK hält sich nicht nur für (siehe oben) wichtig: es ist es sicher auch, partiell. Und der Vorschlag, die green economy des Landes exportfördernd zu stärken, anstatt sich immer nur auf Waffendeals zu verlassen. Schwammige Angelegenheit.

4) Open up democracy to the online masses

Da geht es darum, die ritualisierte und altbackene Institution des Parlaments wieder an die Menschen ranzubringen. Mit Ideen wie einem Bürgervorschlagsrecht von Gesetzes-Initiativen und einer Ausweitung der Referendums-Kultur.

Ist in England aufgrund des kulturellen Basis-Respekts den klassisch-demokratischen Einrichtungen gegenüber um etliches leichter als hierzulande, wo jeder Popel-Populist von einer Quatschbude reden darf und von den Herrn/Frau Karls dafür Applaus bekommt, weil man sich mit derlei gar nicht auseinandersetzen will und all das am liebsten outsourcen möchte.

5) Reinvent the way we live together

Auch nicht neu, aber immer wichtiger: Wohnungsbesitz, sagt Matthew Taylor, ist kein gesellschaftlicher Motor. Zur Miete ist besser und gemeinsam, collective living, ist noch viel besser. Nicht nur Banalitäten wie W-Lan oder Waschküchen gehören bedacht, es geht um Visionäres wie urbane Farmen, die eine Durchmischung der Altersstruktur fördern und damit diverse gefährliche monokulturelle Wohn/Lebensraum-Trends wieder abtöten.
Und neben dem Zurückdrängen der Segregation der Generationen verhindert ein Umdenken der Wohnbefindlichkeit auch eine angesichts der Alterspyramide große Zukunftsabedrohung: Vereinsamung.

Christoph Grissemann darf sich jetzt mit seiner schon vor Jahren entworfenen Idee der Alten-WG als Visionöär feiern lassen.

6) Live Life as a Lottery

Das permanente Dilemma sowohl der Entscheidungs-Unfähigen als auch der Entscheidungs-Geilen ist dieses Dogma der Unabsehbar- und Unverrückbarkeit von nahezu allem, was man tut. Die Schwere der Welt drückt auf unsere Schultern, bei jeder Pimperl-Entscheidung übers richtige Joghurt, bis hin zur Karriere-Planung und der Angst vor sozialer Unsicherheit.
Der Zufall, sagt Ratschlag 3, ist nicht dein Feind, sondern dein Verbündeter.
Das, was sich Dinos Chapman, Turner Prize Nominee dazu an konkretem Vorschlag (nämlich eine echte Schicksals-Lotterie) ausgedacht hat, ist komplett Gaga, aber ein Anstoß fürs freie Neudenken.

7) Pull the plug on broadcast regulation

Die starke Stellung der BBC ermöglicht es offensichtlich, dass der Staat recht dick in das Privat-TV/Radio-Programm eingreifen kann. Deshalb hier ein Appell, die Marktkräfte besser wirken zu lassen.

In Österreich reguliert die Politik den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und zwar unter Anleitung der Lobbyisten, die dick in Verlagen und Beteiligungen drinstecken.
Hierzulande wird man - im Gegensatz zu den Briten - über jede ernsthafte Regulierungs-Behörde dankbar sein müssen.

8) Enact Beta versions of news laws

Politiker sollen von Online-Spieleerfindern lernen. Wenn denen was nicht optimal gelingt, kommt - so schnell kann man gar nicht schauen - die verbesserte Version auf den Markt.
Gut, man kann schiere Produkte, die sich nach den Begierden eines Publikums (Klientels) richten, nicht 1 zu 1 mit Gesetzen und Vorschriften, die hauptsächlich dazu dienen, Gerechtigkeit und gleiche Bedinungen zu schaffen, vergleichen.

Aber trotzdem, auch dieser Ansatz hat natürlich was.

9) Make carbon emissions hurt

Schadstoffausstoß und so, überheizte Wohnungen und wenig Bewusstsein, Chris Twinn schlägt sowas wie den tatsächlichen individualisierten Footprint vor, mit Bonus und Malus-System. Der Tod aller Billigflieger, klar - aber wie lang hält dieses System anyway?

10) Slash the Unis and go virtual

Viele Uni-Kurse sind Zeit-, Raum- und Geldverschwendung, postuliert diese These.
Ich kann ihr nicht folgen, erkenne auch die Lösungs-Ansätze nicht, aber ich muss ja nicht alles gut finden.

11) Make policy using prediction markets

Was für Gambler: die Previews und deren Akzeptanz, auf deren Basis die meisten politischen Entscheidungen fallen, gehören wie ein Wettsystem strukturiert. Unter Beteiligung der Bürger natürlich.
Die würden, das glaubt Nick Bostrom, dadurch auch deutlich mehr Respekt vor der politischen Arbeit und Verantwortung bekommen. Partizipation übers Wetten? Wild, aber witzig.

12) Turn cities into lush green jungles

Effiziente Radikalität durch die Ruralisierung der Städte, sagt der Biologe Paul McAuley und schlägt neben einem völligen Umdenken, was Baumaterialien, fossile Brennstoffe und den Autoverkehr (den er rausschmeißen will) auch die Atomenergie als Treiber vor. Das hat im UK eine deutlich andere Tradition als hierzulande.

Dass die neuen Städte dann ausschauen würden, wie die vom Dschungel überwucherten Maya-Kulturen heute, hat was poetisches. Vielleicht sieht Wien von oben eh schon ähnlich aus...

13) Promote another crash

Genau, was die Ökonomie braucht, ist noch eine Kernschmelze. Keine so wilde wie die letzte, aber doch. Auch, um allen klarzumachen, dass die große Krise von 08/09 far from being fixed ist: "We need something that makes the politicians cack their pants." Weil sonst nämlich, sagt diese etwas undifferenziert vorgetragene Polemik, die nächste echte Krise schlimmer wird als die letzte.

14) Ditch Twitter: it's dangerous for democracy

"Das Internet" ist nicht immer auf der Seite des Guten, geschweige der westlichen Demokratie. Armin Thurnher ist überall: in diesem Fall heißt er Evgeny Morozow und hat drei Thesen:
1.) Diktaturen profitieren davon. Also nicht wirklich, aber das Netz kann auch nichts gegen sie ausrichten.
2.) Das Netz nimmt dem Staat Macht und verteilt sie an die Zivilgesellschaft um. Und das ist nicht gut, weil es russische Cyber-Kriminalität gibt.
3.) Weg mit dem BBC-Worls Service. Dort müssen diese Gedöns-Sachen, dieses Social Media-Zeug hin. Denn die Beeb ist es, die Revolutionen in Afghanistan fördert, nicht Twitter.

Nun, Geistesgrößen dieser Sorte gibt's bei uns schon zur Genüge, dieser Import ist überflüssig.

15) Encourage failure

Wichtige alte zentrale Forderung seit ewig. Scheitern ist nicht nur Chance, sondern charakterprägend. Deshalb haben z.B. Berufssöhne und Protektions-Kinder keinen; weshalb sie dann auch nichts wertvolles zustandebringen.
Diese These (noch dazu von einem aus dem Herzen der Finanzwelt, einem FT-Kolumnisten vorgetragen) fordert z.B. auch, die High Politics auf 10% der Haushalte für "Gescheitertes" zu bilanzieren. Es würde der Verlogenheit und der Rechtfertigungs- und Scheinbewahrungs-Industrie, die keiner braucht, das Wasser abgraben, die Poser-Evaluierungen mit ihren gefinkelten Lügen minimieren.
Und die Wahrheit des immer wieder von Neuem nötigen Trial&Errors deutlicher aufzeigen. Was wieder - siehe auch Punkt 11 - mehr Respekt vor Politik nach sich zieht, und wenig anfälliger für Populismus macht, der sich gern in der scheinbaren Objektivität von absoluten Zahlen/Werten umtut, wo relative (Zahlen und Werte) angebracht wären.

Fazit

Das ist sicher nicht genug, um ein echtes Rebooting durchzuziehen. Aber mehr, als ich in diesem Jahr hierzulande an Ideen vernommen habe.

Und schau an: nach der schönen Falter-Evaluierung kommt ein paar Stunden später ein inhaltliches Risiko-Lehrerausbildungs-Paket auf den Tisch. Immerhin.