Erstellt am: 17. 12. 2009 - 12:40 Uhr
Nobody said it was easy
Nach Bekanntgabe der Longlist des Deutschen Buchpreises 2009 haben deutschsprachige Independent-Verlage kurzfristig eine eigene Liste mit ihren literarischen Empfehlungen zusammengestellt – die Hotlist 2009. "Raubvogel" von Benajmin Tienti, erschienen im Luftschacht Verlag, war einer dieser 20 Romane.
„Er kommt nicht wieder.“ Die Mutter kauert angetrunken am Boden. Ist ein Häufchen Elend. Immer wieder wiederholt sie: "Er ist weg." Sie muss zunächst für sich selbst kapieren, was diese Neuordnung der Familienwelt bedeutet. Bedeuten wird. Ihre Schultern zittern unter dem heftigen Schluchzen. Der siebenjährige Sohn stützt sie, nicht er lehnt sich an sie an, sondern umgekehrt. Der Sohn sollte seiner Meinung nach etwas fühlen, nun, da Gewissheit besteht, dass sein Vater Söhne und Frau verlassen hat. Stattdessen macht er sich Vorwürfe, dass er nichts spürt, nur einen Brocken in seinem Hals, der sich schließlich auf seinen ganzen Körper ausdehnt.
Literaturverlag Luftschacht
Das ist nur eine der markerschütternden Szenen in Benjamin Tientis Debütroman "Raubvogel", der aus der Perspektive eines siebenjährigen Volksschülers erzählt wird, und es ist nicht mal die schlimmste, traurigste Szene. Denn bis es letztlich zur Trennung der Eltern des Siebenjährigen und seines vierjährigen Bruders Tobi kommt, häufen sich unzählige seelische und physische Grausamkeiten zwischen den Erwachsenen an, die auf die Kinder ungebremst, aber unerklärt einprasseln.
Auch sehr lesenswert zum Thema "Wer sich in Familie begibt, kommt darin um" ist der Roman "Muttermilch" von Edward St Aubyn, englischer Adelsspross und Ex-Junkie mit dysfunktionaler Kindheit. Kostprobe: "Wenn man ein kleines Kind hat, wird man kindischer - ist dir das noch nicht aufgefallen?" - "Ich hab keine Zeit, kindischer zu werden - dieses Vorrecht haben nur Väter."
Die Mutter arbeitet als Krankenschwester, sie überarbeitet sich, ihre Schichtdienste erlebt der kleine Protagonist des Buches als aneinander gereihte Abwesenheiten. Selbst gekochtes Essen, das gibt's nur, wenn die Oma auf die Buben aufpasst. Sogar zu Hause ist die ständig vom Alltag überwältigte Mutter in die weiße Schwesterntracht gekleidet, während Malik, der Vater, in nüchternen, drogenfreien Momenten den Familienclown gibt, der die Kinder amüsiert mit Späßchen wie nackt rumlaufen, der mit Mamas musikalischen Schätzen Kassettensalat kocht, Fantasieschlösser baut oder S-Bahn-Kontrolleure foppt. Eigentlich sind es drei kleine Buben, die die Frau bändigen muss.
Entwicklungspsychologisch gesehen können Kinder bzw. Jugendliche erst ab etwa dem sechzehnten Lebensjahr etwas mit den Konzepten der Erwachsenenwelt anfangen. Erst dann beginnt man langsam zu verstehen, was Liebe und Verliebtsein bedeutet, was sich eventuell hinter Konstrukten wie Heirat, Scheidung, Beruf und Tod verbergen könnte. Diese Tatsache hat auch Autor Tienti im Blick, so fehlt glücklicherweise jegliches moralische Urteil. Es spricht die unvoreingenommene, unbedingte Liebe und Wahrnehmung eines Kindes in einer Sprache, die Benjamin Tienti ohne Qualitätsverlust stringent durchhält. Die filmszenenhafte Aneinanderreihung der Kapitel wirkt umso drückender auf den Leser/die Leserin.
Hier der Notruf der Direktorin der Rütli-Schule von 2006 zum Nachlesen und hier der Wikipedia-Eintrag der Rütli-Schule.
Andreas Mergner
Der Romandebütant und Punkfan Benjamin Tienti, Jahrgang 1981, kennt sich mit Entwicklungspsychologie nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis aus. Er arbeitet als Erzieher und Betreuer in Wohngruppen und Schulen, unter anderem in Berlin-Neukölln, einem Bezirk, der in der medialen Außenwahrnehmung als „problematischer Stadtteil“ bezeichnet wird, Stichwort Rütli-Schule. Wobei das Drama elterlicher Konflikte oder einer elterlichen Trennung bei jedem Kind, gleich welcher sozialen Herkunft, dasselbe Erdbeben auslöst. Die Ver- und Aufarbeitung geschehen auf unterschiedliche Weise. Der Siebenjährige in Tientis „Raubvogel“ etwa ordnet seine Bedürfnisse nach Kindsein den Depressionen der Mutter unter, er ist versucht, „unauffällig“ zu sein. Er kooperiert, wie die Kinderpsychologie dieses Phänomen nennt. Bei ihm gipfelt die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit, nach Normalität und Ruhe schließlich in einem Akt der verzweifelten Selbstauslöschung und Betäubung: er kollabiert durch eine selbst zugefügte Überdosis Asthmaspray.
Es ist nur ein schmales Büchlein, dieser "Raubvogel", knapp hundert Seiten, aber es lässt den Leser Dinge mit einer Wucht und einer Authentizität lesen, die man vielleicht so eindringlich, so nachvollziehbar, so schmerzhaft gar nie lesen wollte. Aber so ist das Leben: niemand hat gesagt, dass es einfach ist.