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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

9. 12. 2009 - 18:41

Journal '09: 9.12.

Die neun Hauptfallen der Neuerungs-Feindlichkeit, von Kathrin Passig historisch aufgearbeitet und auf den Medienwandel runtergebrochen.

Ehrlich, ich habe eigentlich angenommen, dass das nicht mehr nötig sein müsste, als mir Gröbchen am Montag den Link schickte. Nämlich auf ihn zurückgreifen zu müssen.

Eigentlich sollte nämlich alles, was Kathrin Passig da aufzählte, längst common sense sein - nicht im Detail, aber im Prinzip; zumindest unter Menschen, die jenseits der vereinfachenden Vorurteils-Schleudern sowas wie eine seriöse Debatte führen. Und andere, sorry, nehme ich ganz bewusst nicht mehr wahr. Wer sich außerhalb einer unverleugbaren Realität stellt, kann das auch nicht verlangen.

Nur: ich hab mich geirrt. Selbst innerhalb der Gruppe von Menschen, die sich eigentlich damit auseinandersetzen müssten ist die Gruppe der Self-Blindfolder größer als erwartet.

Natürlich hätte ich es wissen sollen.
Die Musik-Branche hat das jahrelang systematisch vorgezeigt: Vogel-Strauß-Politik ersten Ranges, was nicht sein darf, das gibt es dann auch nicht, Selbstbetrug und daraus resultierende Irrtümer, die bis zur Selbstverstümmelung reichen.

Selbstbetrug und Selbstverstümmelung

Nun funktioniert der Medienwandel nach ganz ähnlichen Mustern: nach der Verflüssigung des Geschäfts mit dem Fest-Tonträger ist es nun eben auch der Rest der Informationen, die sich im virtuellen Raum verlieren, deren Wert nun anders bemessen und erarbeitet werden muss.

Und nach der trägen und drögen Mehrheit der ich-krieg-den-Arsch-nicht-hoch-Macher der Musikbranche, die die Entwicklunen nicht und nicht zur Kenntnis nehmen wollten, sind es jetzt eben die noch ein deutlich' Stück arroganteren Medien-Macher, vornehmlich die Vertreter der zuvorderst bedrohten Print/Verlags-Kollegen, die ihren Realitäts-Verlust nicht unter Kontrolle bekommen.

Der Kollege Klimek etwa leitete gestern diesen Link weiter, der nichts anderes als ein vom US-Branchenriesen Sports Illustrated entworfenes Modell eines Print/WEb-Hybrids ist, weiter. Nicht das goldene Kalb, auch nicht die Rettung der Branche, vielleicht auch keine Geschäftsidee, aber ein intelligenter Ansatz; der Beleg der aktiven Beschäftigung.
Das kommentierende Gemecker der gemischt deutsch-österreichischen Print-Kollegen unter diesem Link ist an Ziegenhaftigkeit nicht zu übertreffen: Kaum zu machen... Sport ist doch blöd... Noch so ein Hype wie um die E-Books... Schlechtes Layout... Flimmernde Gazette.. Der Rückschritt kommt schon noch... Großspurig pornobunt...
Und das nicht von irgendwelchen Anfängern, sondern von sogenannten Auskennern.
Der Knackpunkt geht da unter: es muss nicht genau so kommen, aber es wird kommen. Und wer sich jetzt nicht in die Überlegungen um das Wie einklinkt, wird überollt werden.

Der Medienwandel findet statt; nur das "Wie" ist unklar.

Die großen Verlage stellen diese Überlegungen natürlich schon an, probieren es mit dem Online-Kiosk, ein Anfang immerhin, jenseits der puren Abwehr-Haltung.

Andere beschäftigen sich mit den aufstrebenden Grassroots-Geschäftsmodellen, die in aktuell völlig unbeachteten Feldern betrieben werden und die klassischen Holzmedien an ihrer morschen Unterseite aushebeln.

Und nur noch die Dümmsten der Dummen stellen sich Fragen (Sollen Journalisten überhaupt twittern?), deren Unsinnigkeit eigentlich jedem vernunftbegabtem Wesen klar sein müsste.

Deswegen:
ja leider, die Internetkolumne dfer Bachmann-Preistrtägerin, Riesenmaschinistin und New Media-Vorreiterin Kathrin Passig, die mir Gröbchen geschickt hat, ist eben nicht Common Sense.
Und das ist das bittere an der aktuellen österreichischen Position in der Debatte um den Medien-Wandel.

Deshalb der Link zu Standardsituationen der Technologiekritik und nur das Allersimpelsteste daraus als Teaser für die scheinbar den Großteil des Mainstreams repräsentierenden absichtlich Ahnungslosen und Denk-Verweigerern.

Passigs Punkte

Etwa die neun Trottel-Argumente mit denen jegliche Neuerung, egal ob Medien, Technik oder sonstige Fortschritte bislang (zwecklos) entgegnet wurde.

  • 1. What the hell is it good for? Es ging doch bisher auch so. War wohl schon das Argument gegen die Verwendung von Feuer.
  • 2. Wer will denn so was? Klassisch am Besipiel des Tonfilms: "Who the hell wants to hear actors talk?"
  • 3. Die Einzigen, die das Neue wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten. "Multimedia als Geisterzug, in dem sich ein paar Nintendo- und Sega-Kids verlieren."
  • 4. Das ist eine Mode, die wieder vorbeigeht. Beispiel: "The horse is here to stay, but the automobile is only a novelty – a fad." oder "The radio craze will die out in time".
  • 5a. Leugnen: "Täuschen Sie sich nicht, es wird sich absolut nichts ändern", alles nur "a pretty mechanical toy" oder "Das Internet wird die Politik nicht verändern."
  • 5b. Ist doch kein Geschäft: "Airplanes will be used in sport, but they are not to be thought of as commercial carriers."
  • 5c: Nutzlosigkeit: alles nur eine "Flut von inhaltslosem Wortlärm." Infantilisierung und Idiotisierung der Öffentlichkeit.
  • 6a. Nicht gut genug. Zu Teuer. Im Fall des Internets rechnete man vor Jahren mit einer "Netz-Überlastung".
  • 6b. Zu kompliztiert, wie beim Umstieg von Bogen auf Musketen: "The bow is a simple weapon, firearms are very complicated things which get out of order in many ways."
  • 6c. Nicht 100% zuverlässig. Passig zitiert historische Warnungen vor damals neumodischen wWgweisern, die mit dem nicht allzu lang zurückliegenden Spott Navis gegenüber deckungsgleich sind.
  • 7. Schwächere als ich können damit nicht umgehen. Computer schädigen Kinderhirne, machen sozial orientierungslos. Wie schon im 19. Jahrhundert, als mit denselbem Schmähs vor der damals aufkommenden "Vielleserei" gewarnt wurde. Bibliomanie = Onlinesucht.
  • 8. Etikette. Alles mögliche ziemt sich nicht und ist plötzlich unfein. Einm Buch verschenken? Skandal! Briefe tippen? Wäh! Laptop im Cafe? Pfui!
  • 9. Verändert die Denk-, Schreib- und Lesetechniken zum Schlechteren. Die Postlkarte als Sargnagel der Briefkultur. Das Ende der Literatur durch die Schreibmaschine.

Die eigenen Pfründe gegen bösen Fortschritt verteidigen

Passig meint, dass jede Technologie diese Stufen der feindseligen Entgegnung, diese Schritte des schwachsinnigen Anrennens, diese Verteidigung aufgeblasener Konstrukte durchlaufen muss.
Mag sein.
Etwas mehr Vorab-Analyse und Selbstreflektion kann doch aber nicht schaden. Und die Peinlichkeit der aktuellen Dumpfkerl-Aussagen lässt sich durch ihre deppensichere Zuordnung in diese neun stereotypen Platitüden ja noch deutlicher herausstreichen.

Noch ein wichtiger Passig-Satz: "Das eigentlich Bemerkenswerte am öffentlich geäußerten Missmut über das Neue aber ist, wie stark er vom Lebensalter und wie wenig vom Gegenstand der Kritik abhängt." Das trifft selbst auf Menschen zu die dien letzten Neuerungen noch mitgetragen haben. Wenn es später drum gehen sollte die eigenen Pfründe gegen den bösen Fortschritt zu verteidigen, setzen Denk- und Handlungs-Mechanismen einfach aus.

Das ist zwar menschlich und nachvollziehbar, aber deshalb nicht weniger platt und peinlich. Passig: "Wer darauf besteht, zeitlebens an der in jungen Jahren gebildeten Vorstellung von der Welt festzuhalten, entwickelt das geistige Äquivalent zu einer Drüberkämmer-Frisur: Was für einen selbst noch fast genau wie früher aussieht, sind für die Umstehenden drei über die Glatze gelegte Haare."

Haare über die Glatze kämmen

Weil Kathrin Passig jedoch, ebenso wie alle relevanten Medienwandel-Nachdenker, die ich in Österreich und Umgebung kenne und schätze, selbstverständlich auch kritisch über all das über uns Hereinbrechende nachdenkt, bleibt diese Seite nicht unerwähnt.
Aber auch hier ist es wie überall: erst müssen die Aufgaben erledigt, das Handwerk erlernt sein. Um abstrakt malen zu können, müssen wir das Gegenständliche beherrschen. Weshalb eine Debatte in diesem Bereich aktuell eben nur für die bereits Fortgeschrittenen Sinn ergibt - und die Stammtisch-Nöhler sitzenbleiben müssen.

Passig zitiert Sven Birkerts: "Der Unterschied zwischen der Frühen Neuzeit und der Gegenwart ist - drastisch vereinfacht - der, dass der Körper einst Zeit hatte, das transplantierte neue Organ anzunehmen, während wir jetzt Hals über Kopf voranstürzen". Die Zeit zum Erlernen der neuen Techniken, sagt Passig, wird eben immer knapper: Von den ersten nachweisbaren Schriften der Menschheit bis zum Kodex: 3600 Jahre; von dort zu Gutenbergs beweglichen Lettern: 1150 Jahre. Und seither geht es Schlag auf Schlag.

Durchaus.
Aber das ist kein Grund den Retourgang einzulegen, sich die drei Resthaare rüberzufrisieren oder winselig einen auf Untergang des Abendlandes zu machen.

Das sind die Herausforderungen. Die der Zeit in der wir leben. Der wir uns zu stellen haben. Ganz ohne Realitätsverweigerung und peinliches Abwehr-Gehabe.